Was wollte Schlome Grünstein bei ihm und woher kannte sein Kind den »Meschumed?« Er war sein Jugendgespiele und der Bruder seines Weibes, aber seit zwanzig Jahren und darüber hatte Moses kein Wort mit ihm gesprochen. Denn mit einem »Meschumed«, mit einem Abtrünnigen vom Glauben, darf der Fromme keine Gemeinschaft haben und ein solcher Abtrünniger war Schlome in den Augen des Ghetto. Und doch war der bleiche, kränkliche Mann mit den weichen, träumerischen Zügen immer Jude geblieben, lebte still und friedlich unter den Anderen und nützte seinen Reichtum zu Werken des Segens und der Barmherzigkeit. Aber der Makel und der Name klebten ihm aus seiner Jugendzeit unauslöschlich an.
Da war es ihm seltsam ergangen. Der Vater hatte den schüchternen und tiefsinnigen Knaben, der nur in seinen Büchern lebte und da allein Witz und Scharfsinn zeigte, zum Rabbi bestimmt. Schlome war damit zufrieden, studierte sich fast um seine Gesundheit und übertraf bald seine Lehrer. Denn in dem schwachen Knaben loderte eine verzehrende Sehnsucht nach Wissen und Erkenntnis. Diese Sehnsucht ward sein Verderben und der Fluch seines Lebens. Durch Geld und flehentliche Bitten bewog er den christlichen Schulmeister des Ortes, ihm heimlich, in späten Nachtstunden, das verbotene, verhaßte Hochdeutsch zu lehren und die »Christenweisheit«. Von der letzteren aber wußte der Schulmeister selbst nicht allzu viel und half sich damit, daß er seinem ungestümen Schüler, kaum daß dieser lesen konnte, alle Bücher aus der Klosterbibliothek zuschleppte, deren er nur immer habhaft wurde. So las der heranreifende Jüngling die seltsamsten und wirrsten Dinge bunt durcheinander und legte sie sich oft seltsam genug zurecht. Da kam ihm auch eines Tages ein Buch in die Hände, das ihn dem Wahnsinn nahe brachte. Die Form und der Ton dieses Buches waren ihm wohlbekannt und vertraut, mahnten sie doch an die heilige Thora, aber der Geist, der durch diese Blätter zog, war ein anderer und – dem Jüngling erstarrte das Blut – ein milderer und sanfterer. Denn dieses Buch war das neue Testament. Wie Frühlingsluft wehte es ihn daraus an und doch sträubte sich sein Haar vor Entsetzen. Das also war die Götzenlehre der Christen und so hatte jener Mann gelebt und gewirkt, den seine Väter gekreuzigt und von dessen Bilde man ihn noch jetzt in Haß und Verachtung das Antlitz abzuwenden gelehrt! Der Schlag war zu heftig, Schlome verfiel in gefährliche Krankheit und lag lange Wochen in schwerem Fieber. Oft und viel weinte und sprach der Bewußtlose von dem bleichen Nazarener und dem Kreuz und jenem Buche. Entsetzt hörten es die Eltern und die Nachbarn; sie forschten nach dem Zusammenhang und entdeckten endlich die heimlichen Studien. Bald ging das unheimliche Gerücht durch das Ghetto, Schlome habe Christ werden wollen und sei dafür von Gott mit Wahnsinn gezüchtigt worden. Aber der Jüngling genas und ging wieder unter seinen Glaubensgenossen einher, noch scheuer, noch bleicher, noch gedrückter als vorher. Was in seinem Innern tobte und kämpfte, erfuhr niemand, aber jedes Kind in der Judengasse nannte ihn den »Meschumed« und wußte zu erzählen, daß er seinem Vater mit heiligem Eide geschworen, Jude zu bleiben, wenn dieser ihm dagegen Zweierlei gestatte: alle Bücher zu kaufen und zu lesen, die er wollte, und – unvermählt zu bleiben. Und er hielt seinen Schwur, auch nachdem ihn der Tod seiner Eltern reich und unabhängig gemacht. So verging sein Leben in dem engen, finstern Ghetto. Er hatte nur einen Freund, das war David Blum, der Krankenpfleger, gleichfalls ein unglücklicher Mensch mit seltsamen Schicksalen. Aber diesen Freund gewann er spät und verlor ihn bald: David Blum starb, ob an den Folgen des Nervenfiebers, ob an gebrochenem Herzen, es war kaum zu entscheiden. Der »Meschumed« betrauerte ihn sehr und dieser Tod riß eine tiefe Wunde in sein ohnehin so freudenarmes Leben; ihm war's, als wäre da ein Stück seines eigenen Herzens zur frühen Gruft gesunken. Und doch war nicht bloß Beider Schicksal, sondern auch Beider Natur grundverschieden gewesen: David stark und hochstrebend, aber spröde und phantastisch und darum für immer gebrochen, als ihn einmal die Hand des Schicksals traf; Schlome schwach und milde, ein Dulder, den das Schicksal beugen, doch nicht zermalmen konnte. So lebte er fort, mitten unter den Menschen und dennoch entsetzlich einsam; selbst die Armen nahmen die Wohlthaten nur zögernd aus seiner Hand. Und doch liebte er alle Menschen und am meisten die Kinder, die Einzigen, welche diese Liebe erwiderten, obwohl auch sie aus Furcht vor den Eltern nur selten mit ihm verkehren durften. Die kleine Esther, das einzige Kind seiner verstorbenen Schwester, liebte er vollends fast abgöttisch und auch sie hing inniger an ihm, als an dem ernsten, verschlossenen Vater.
Das war der Mann, der in jener Mondnacht zur Steinbank kam, auf der Moses Freudenthal und sein Kind saßen.
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