»Ich habe mit Euch zu sprechen, Schwager,« sagte er, als dieser ihn kalt und fragend ansah. Und dann, nachdem das Kind auf seine Bitte zur Ruhe gegangen, wiederholte er noch einmal: »Ich habe mit Euch zu sprechen, Vieles und Wichtiges. Setzt Euch nur neben mich, Ihr dürft's jetzt schon wagen, es ist keine lebendige Seel' mehr auf der Gasse ...« Moses setzte sich zögernd. »Es ist wegen des Kindes,« begann der »Meschumed«. »Die Sache drückt mir schon lang auf dem Herzen, und da ich eben vorüberging und Euch erkannte, mochte ich's nicht länger aufschieben. Seht, Schwager, Euer Kind wächst herrlich heran. Sie wird einmal sehr schön werden, aber, was noch mehr, sie ist schon heute sehr gut und so klug, daß es für ihre Jahre zum Verwundern ist. Ihr wißt es kaum, was für Fragen das Kind stellt und wie eigen es sich alles in seinem Kopf zurechtlegt; Ihr wißt es kaum, Schwager!« – »Und woher wißt Ihr's?« unterbrach ihn Moses und die Stimme klang hart und scharf. »Habe ich Euch gestattet ...« Aber der Andere erhob abwehrend seine Hand. »Laßt das, ich bitte Euch, laßt das! Ich könnte Euch trotzig erwidern, daß Esther meiner Schwester Kind ist und daß ich gutes Recht und guten Grund habe zur Sorge und Liebe für Eure Tochter. Aber ich kann und will nicht so sprechen; Trotz und Zorn haben uns lange genug getrennt. Und selbst wenn Ihr mir sagtet, daß ich Eurem Hause fremd sei, fremd oder durch eigne Schuld entfremdet, ich würde nichts darauf erwidern. Denn um Jemand lieb zu haben, dazu bedarf man nicht des Rechtes der Verwandtschaft, und die Welt ist nicht so reich an Liebe, daß man sie sich verbitten müßte. Aber – Ihr meint doch etwas Anderes! Ihr fürchtet Gefahr für Euer Kind, wenn es mit mir verkehrt. Was Ihr jedem Eurer Diener gestattet, das glaubt Ihr mir nicht gestatten zu dürfen. Und so muß ich Euch fragen: Schwager, haltet Ihr mich für weniger gut, als den letzten Eurer Diener?!« Er hielt inne, doch Moses erwiderte nichts. Es hatte den harten Mann eigen berührt, als er nun wieder die Stimme vernahm, die einst in seiner Jugendzeit so gut und treu zu ihm gesprochen. Aber er schüttelte es ab, und als Schlome seine Frage wiederholte, erwiderte er kalt und ernst: »Meine Diener sind fromm und halten fest an dem Glauben der Väter.« Er sprach die Worte vor sich hin und blickte nicht auf, sonst hätte er den Schmerz und die Bitterkeit sehen müssen, die um des Andern Lippen zuckten. Aber es war kein bitteres Wort, das von diesen Lippen kam. »Seht, Moses,« sagte er tief aufatmend, »es steht ein gutes Wort geschrieben: ›An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen!‹ Und mein Leben liegt klar vor Euren, wie vor Aller Augen. Ich war furchtbar einsam, gemieden und weltverloren, aber aus ganzer Seele habe ich mich gemüht, dieses Leben anzuknüpfen an das der Anderen um mich her. Ich habe mich gemüht, es so nützlich zu machen, als es nach dem, was einmal geschehen, noch werden konnte. Ihr seid der erste Mensch – und Ihr werdet der einzige bleiben – dem ich es sage, daß ich mir bewußt bin, mein Mögliches in dem gethan zu haben, was man Wohlthun nennt und was doch nur Menschenpflicht heißen sollte. Ich habe deshalb freilich kein glückliches und gutes Leben gelebt, aber richtet Ihr, Schwager, richtet Ihr, ob es auf Frevel und Thorheit weist?« Moses strich mit der Hand über Stirn und Augen, als müßte er sich auf die Antwort besinnen. Dann sagte er milder: »Über ein ganzes Leben richten und gerecht richten, das kann kein Mensch, das kann nur der allwissende Gott. Ich will glauben, daß es so ist, wie Ihr sprecht, und wohl Euch, wenn es so ist. Dann könnt Ihr ruhig der Stunde harren, wo Gott Euch richtet. Aber« – unterbrach er sich und fuhr dann fast scheu fort – »glaubt Ihr auch an Gott?!« – »Ja!« erwiderte Schlome und erhob sein Haupt, »ja! ich glaube an ihn. Ich habe ihn in meiner Knabenzeit gesucht und gewähnt, er sei ein Gott des Zornes und der Rache und nur einem Volke das Licht und der Hort; ich habe ihn in meiner Jünglingszeit gesucht und gewähnt, er sei ein Gott der Liebe und des Erbarmens und doch nur Denen gnädig, die ihn verehren in bestimmter Form und Satzung. Später aber habe ich ihn gefunden und erkannt; er ist kein Gott des Zornes und kein Gott des Erbarmens, er ist ein Gott der Gerechtigkeit und der Notwendigkeit.