Darum blieb ich im Verborgenen stehen, bis ihr fertig wart.“

„Du brauchst nicht um Verzeihung bitten“, antwortete Mila. „Du bist uns willkommen. Wie ist dein Name? Nenne ihn, damit wir wissen, wie wir dich anreden sollen.“

Sie reichte ihm ihre Hand. Er drückte sie und antwortete:

„Ich heiße Alexius. Und wie heißt du?“

„Mila.“

„So bist du Mila Dobronitsch, von der man mir so viel erzählt hat?“

„Ja.“

Sein Auge flog mit bewunderndem Blick über ihre Gestalt, so daß sie errötete und ihm hätte zürnen mögen, daß er sie gar so aufmerksam betrachtete, und doch brachte sie es zu keinem Zorn, als sie an dem Glanz seiner Augen erkannte, daß sie ihm gefallen hatte.

„Kommst du weit her?“ erkundigte sie sich.

„Aus weiter Ferne.“

„Darum habe ich dich nie gesehen. Du warst wohl noch niemals hier?“

„Ich war noch nicht bei dir, und doch habe ich dich längst gekannt.“

Es war ein eigentümlicher, höflicher und doch zugleich inniger Ton, in dem er diese Worte sagte.

„Wie ist das möglich?“ fragte sie, die Augen niederschlagend.

„Auch ich weiß es nicht. Der Vogel, der noch nie im Süden gewesen ist, träumt von prächtigen Blumen, von goldenem Sonnenglanz. Er kennt das alles nicht; er war noch niemals dort, doch er sehnt sich hin, er träumt davon, und wenn die Zeit gekommen ist, so rüstet er das Gefieder und eilt ohne Weg und Steg dem Ziel, seiner Heimat entgegen. So, gerade so bin ich zu dir gekommen.“

Mila fühlte sich in diesem Augenblick so verlegen wie noch niemals in ihrem Leben. Halb im Scherz und halb ärgerlich entgegnete sie:

„Das klingt ja ganz so, als ob du dich nach mir gesehnt hättest.“

„Das habe ich auch“, nickte er ernst. „Ich hörte so viel von dir, daß ich wünschte, dich einmal zu sehen.“

„Und was hast du gehört?“

„Daß du –“

Er beugte sich zu ihr vor und flüsterte ihr in das Ohr:

„Daß du der ‚Engel der Verbannten‘ seist.“

Mila veränderte die Farbe ihres Gesichts und legte, mit dem Rücken gegen die Mägde gewandt, so daß diese es nicht sahen, den Finger an den Mund, zum Zeichen, daß er vorsichtig sein solle. Dann antwortete sie laut:

„Da hat man sich geirrt. Der, den du mir nanntest, ist ein ganze anderer.“

„Aber du kennst ihn?“

„Ja. Bedarfst du seiner?“

„Bald, sehr bald.“

„So sei mir abermals willkommen! Willst du mit herein ins Haus?“

Bei diesen Worten blickte er sich um, und es lag fast wie Besorgnis auf seinem Gesicht.

„Nein, nicht hinein!“ bat eine Magd. „Wenigstens nicht sogleich. Erst muß er uns ein Lied singen.“

„Ja, ein Lied, ein Lied“, stimmte eine zweite bei.

Alexius wurde jetzt von allen dermaßen bestürmt, daß er das Instrument herabnahm, und kaum hatte er die Hülle geöffnet, so ertönte es froh aus dem Mund der Mädchen:

„Eine Balalaika, eine Balalaika! Das ist herrlich, herrlich!“

Nun stimmte er die Saiten und blickte dabei Mila ernst und forschend an. Sie verstand die stille Frage, die in seinem Blick lag, und beantwortete dieselbe, indem sie nahe zu ihm herantrat und ihm unbemerkt zuflüsterte:

„Du bist sicher.“

Da erheiterte sich sein Gesicht. Er schaute im Kreis umher und fragte:

„Nun, welches Lied wollt ihr haben?“

„Vielleicht dasjenige, das dir am liebsten ist.“

„Also mein Lieblingslied? Warum, Mila?“

„Um dich kennenzulernen. Wenn man das Lieblingslied eines Menschen kennt, so kennt man auch sein Herz.“

Er senkte zustimmend lächelnd den Kopf und entgegnete halblaut:

„Ich danke dir, daß ich dir bekannt werden darf. Wer dich einmal gesehen hat, für den ist es eine Pein, dir fremd bleiben zu müssen.“

Ihr Gesicht glühte. Sie merkte es jetzt, daß sie ihn etwas hatte wissen lassen, was er nicht wissen sollte – daß sie Wohlgefallen an ihm gefunden hatte.

Man bot ihm einen Sitz. Er lehnte denselben ab und trat zu dem nächsten Baum, stützte die Schultern leicht gegen denselben, ergriff die Balalaika und begann, nachdem er eine Zeitlang wie träumend vor sich hin geschaut hatte:

„Weit, ach weit in der Ferne
Liegt das Tal und der Hain,
Wo ich möchte so gerne
Heimisch und fröhlich sein.

Schaue sehnend hinüber
Über den Berg und das Tal.
Heimat, ach dürft' ich dich grüßen,
Ach, nur ein einziges Mal!“

Die Balalaika der Russen hat einen ganz eigenartigen, elegisch weichen Ton. Zu demselben paßte der Text des Liedes und auch die Stimme des Sängers. Es war ihr gar wohl anzuhören, daß es ihr möglich sei, voll und kräftig aufzusteigen; jetzt aber besaß sie eine Zartheit, einen Schmelz, als ob sie, geläutert durch ein heiliges Weh, aus dem tiefsten Herzen empor klinge. So sang er auch die zweite Strophe:

„Kann das Plätzchen nicht finden
In dem unendlichen Raum,
Nimmer die Wehmut ergründen,
Nimmer den sehnenden Traum.

Und doch deucht mir, ich habe –
Täuscht mich kein trügendes Bild –
Ehemals schon als Knabe
An diesem Plätzchen gespielt.“

Die letzten Worte klangen leiser und leiser, und die Begleitung der Saiten schien sich in einen tiefen, schmerzlichen Seufzer aufzulösen.

Er hatte geendet. Niemand sagte ein Wort. Kein Laut des Beifalls wurde hörbar. Da blieb er noch einige Sekunden stehen und wandte sich dann mit einer raschen Bewegung den Zuhörerinnen zu.

„Nicht wahr, so ein Lied kann nicht gefallen?“

Aber das Gegenteil stand allen in den Gesichtern geschrieben.

„Wie schön, wie sehr schön!“ sagte Mila. „Also das ist dein Lieblingslied?“

„Ja.“

„Und wie ist der Titel desselben?“

„Verlorene Jugendzeit.“

Mila sah ihm forschend in die Augen, dann fragte sie:

„Hast du etwa die deinige verloren gehabt?“

„Leider. Ich habe weder Jugend noch Glück gekannt.