Sie wurden mir geraubt, gewaltsam geraubt, oh, wie gewaltsam!“
„So wird der gute Gott dir dafür eine frohe Zukunft geben.“
„Ich bete darum. Möge dieses Gebet erhört werden, denn ich bitte nicht für mich, sondern –“
Der Sänger brach ab, denn unter der Tür des Wohnhauses erschien soeben eine behäbige Frauengestalt, die nach den Mägden rief. Diese eilten ihr gehorsam zu, so daß Mila sich mit dem Fremden allein befand.
„Jetzt haben wir keinen Lauscher“, sagte sie. „Du suchst also den ‚Engel der Verbannten‘?“
„Ja.“
„Für dich?“
„Für mich und andere.“
„Bist du selbst ein Flüchtling?“
„Eigentlich nicht. Mein Vater ist ein Verbannter. Er hat lange Jahre hinten in Jakutsk geschmachtet. Die Mutter und ich, wir sind ihm freiwillig gefolgt. Ein Schwesterlein erfror auf der fürchterlichen Reise. Endlich, nach langen, langen Jahren ist es mir gelungen, den Vater zu befreien. Wir haben Monate gebraucht von Jakutsk bis hierher. Ich erfuhr von dem ‚Engel der Verbannten‘ und hörte, daß du es seist. Darum komme ich zu dir. Was man mir sagte, ist nicht zuviel. Du bist ein Engel!“
Mila senkte die Augen und antwortete:
„Ich habe dir bereits gesagt, daß ich der ‚Engel‘ nicht bin. Ich habe dein Lob nicht verdient.“
„O doch. Ein Engel muß schön sein.“
„Das ist wahr. Aber gerade darum auch bin ich kein Engel. Ich bitte dich – o weh! Da kommt – verbirg dich schnell!“
Eben jetzt war der Hufschlag eines Pferdes hörbar geworden. Hinter einem der Nebengebäude erschien der Reiter. Er kam im Galopp angesprengt, und bald sah man, daß ihm noch zwei andere folgten.
Es war ein Kosakenwachtmeister von der Grenzmannschaft. Seine zwei Begleiter waren Gemeine. Er fegte herbei bis hart vor Mila, wo er sein Pferd parierte und es so tief in die Hechsen riß, daß die Hinterhufe sich in den Boden gruben.
Mila hatte dem Sänger zugerufen, zu fliehen; aber es war dazu zu spät gewesen. Der Kosak hätte ihn gesehen. Gerade durch die Flucht wäre der Verdacht des Wachtmeisters erregt worden. Darum war Alexius ruhig stehengeblieben.
Der Kosak warf ihm einen raschen, finsteren Blick zu.
„Gott grüß dich, Liebchen!“ wandte er sich an das schöne Mädchen. „Ich konnte unmöglich vorüber, ohne dich gesehen zu haben. Wie geht es dem Väterchen?“
„Er ist in die Stadt geritten.“
„Das Mütterchen?“
„Sie befindet sich in der Küche.“
„Und du, mein Täubchen, wie geht es dir?“
„Sehr gut, am allerbesten aber dann, wenn niemand sich um mich bekümmert.“
„Ach! Gilt das mir?“
„Allen.“
Mila sprach jetzt außerordentlich kurz und abweisend. Der Wachtmeister war allerdings keine sympathische Erscheinung. Ein struppiger Vollbart bedeckte sein Gesicht so, daß nur die Augen zu sehen waren, und sein ruhelos und scharf umherschweifender Blick hatte nichts Vertrauenerweckendes. Er schien alles bemerken und alles durchdringen zu wollen.
„Allen?“ lachte er.
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