Vor dem Nachhausekommen hatte er eine gewisse Angst: nachts umgaben ihn die Wände seiner Wohnung mit quälender Enge, und wenn er aufwachte, weinte er nicht nur aus Schmerz, sondern auch aus Furcht. Er nahm den Verkehr mit seinen alten Bekannten wieder auf und kam abends zuweilen in das Gasthaus, wo einige Bürokollegen zu nachtmahlen pflegten. Als er einmal erzählte, daß er schlecht schliefe, riet man ihm, etwas mehr Wein als gewöhnlich zu trinken. Wie er diesem Rate folgte, bemerkte er verwundert, daß er an den Gesprächen lebhaft Anteil nahm und sich beinah froh erregt fühlte. Nachher, als er allein nach Hause ging, kam ihm vor, als hätten ihn seine Freunde in einer sonderbaren, gewissermaßen mißbilligenden Art betrachtet, und er schämte sich ein wenig.
Die Tage wurden wärmer, und die Abende waren sehr lind. Seine Sehnsucht nach der Toten wurde wieder heftiger, und es gab Stunden, da jenes entsetzliche Bewußtsein des unwiderruflich Verlorenen mit der ganzen Kraft eines neuen Unglücks über ihn hereinbrach. Als er einmal an einem Sonntagnachmittag allein im Dornbacher Park spazierenging – der Frühling war in seiner ganzen Pracht über ihm, die Bäume waren gründicht belaubt, die Wiesen glänzten in hellen Farben, alle Wege waren von Spaziergängern belebt, Kinder spielten und liefen, junge Leute lagerten am Waldesrand –, da verstand er das erste Mal ganz, wie einsam er war, und wußte nicht, wie er sein Leid weiter tragen sollte. Er hatte das Bedürfnis, laut aufzuschreien, fühlte selbst, wie er mit weitaufgerissenen Augen und einem absonderlich raschen Gang unter allen den Menschen seinen Weg fortsetzte, und merkte auch, daß ihn manche mit Verwunderung betrachteten. Er wollte den Leuten entfliehen, suchte stillere Wege auf, stieg zwischen den hohen Birken und Tannen die Sofienalpe hinan und kam oben an, als die Sonne unterging. Er sah die Täler und Hügel in rötlich-weißem Glänze liegen, und als er sich umwandte, sah er die Stadt wie in blaß-silbernen Dunst versinken. Er stand lange da und wurde ruhiger. Über der Landstraße, die er bis tief ins Tal hinunter verfolgen konnte, flogen leichte, niedere Staubwölkchen hin, dumpf hörte er das Rollen von Wagen, und laute Menschenstimmen, helles Lachen klang herauf. Langsam[322] schlug er den Rückweg ein, nicht durch den Wald, wie er gekommen, sondern auf der breiten Fahrstraße. Er blieb manchmal stehen und atmete auf, als wäre ihm von irgendwoher ein Trost gekommen. Die Dämmerung brach rasch herein. An hübschen Landhäusern vorbei, vom Strom der Leute mitgerissen, kam er bald zu einem großen Wirtsgarten, der sehr besucht war. Die Gartenlaternen waren angezündet, an einem Tisch in der Tiefe des Gartens saßen Musikanten, die auf Ziehharmonika, Geige und Flöte Wiener Lieder spielten, während einer mit einer hohen und süßlichen Stimme dazu sang. Ziemlich weit von diesen, gleich neben dem Eingang, nahm Gustav Platz. Er betrachtete die Leute in seiner Nähe; am Tisch neben ihm saßen zwei junge Mädchen, die ihm sehr hübsch erschienen, die er sehr lange ansah. Er erinnerte sich seiner Junggesellenzeit, denn seitdem hatte er Frauen nie wieder mit solchem Blick betrachtet. Frauengestalten kamen ihm ins Gedächtnis, die er im Laufe der letzten Zeit auf seinen regelmäßigen Wegen vom Hause ins Büro begegnet, die ihm aber nichts bedeutet hatten. Heute, diesen blonden jungen Mädeln gegenüber, fühlte er zum ersten Male wieder, daß er noch ein junger Mann war. Jetzt fiel ihm auch ein, wie ihn manchmal die Frauen zuweilen auf der Straße anschauten, und mit Schrecken und Freude zugleich wurde ihm bewußt, daß das Leben doch noch nicht für ihn vorbei sein konnte und daß es schöne Frauen oder Mädchen gab, die er vielleicht umarmen würde. Wie ein Schauer ging es ihm über Hals und Lippen, wenn er an die Küsse dachte, die ihm noch bestimmt waren. Ein eigentümlicher Drang ergriff ihn, sich eines der Mädchen gegenüber am Tische in seinen Armen vorzustellen, und er schloß die Augen. Aber kaum waren ihm die Lider gesunken, so hatte er das Antlitz seiner toten Frau vor sich und sah ihren Mund langsam, mit einer leisen zuckenden Bewegung, die ihr eigen gewesen, sich dem seinen nähern. Entsetzt riß er die Augen wieder auf. Dieses Mädchen war nichts mehr für ihn. Er fühlte, daß keine Frau der Welt je mehr etwas für ihn bedeuten könnte. Mit der gleichen Gewalt wie heute während des Spazierganges brach sein Schmerz wieder hervor, und er wußte, daß er für die Welt und ihre Freuden verloren war.
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