Er schämte sich der vorausgegangenen Augenblicke, und der Gedanke, je wieder ein Weib in seinem Arm zu halten, erfüllte ihn mit Ekel und Scham. Ganz vernichtet machte er sich auf den Heimweg. Es war ihm, als müßte er sich kasteien; er ging den langen Weg bis in seine Wohnung zu Fuß[323] und kam in einer so tiefen Müdigkeit an, wie er sie nie verspürt zu haben glaubte, Leib und Seele schienen ihm wie zerschlagen; ein unruhiger, schwerer Schlaf kam über ihn, und er wachte mit der dunklen Ahnung auf, als stünde ihm etwas Gräßliches bevor.
In den nächsten Tagen quälte er sich damit, eine neue Ordnung und einen neuen Inhalt für seine Existenz zu finden. Er sah ein, daß er sich dem wütenden Schmerz nicht weiter hingeben durfte, wenn er nicht zum Weiterleben unfähig werden wollte. Er wunderte sich jetzt im Zurückdenken, wie er eigentlich sein Dasein verbracht, bevor er seine Frau kennengelernt hatte; es schien ihm, als wäre es eine Art von Traumleben gewesen. Abgesehen von Büroarbeiten, die er stets mit einer gewissen Freude an seiner eigenen Verläßlichkeit besorgt hatte, waren seine geistigen Bedürfnisse gering gewesen. Er hatte gern Musik gehört und zuweilen Reisebeschreibungen gelesen, die ihn aber weniger durch einen abenteuerlichen Inhalt als durch Natur Schilderungen zu fesseln pflegten. Und wenn er sich jetzt fragte, was er am liebsten anfangen möchte, so mußte er sich sagen: reisen. Es war ihm aber unmöglich, seinen Beruf aufzugeben, und ein kurzer Urlaub, den er hätte erlangen können, wäre wertlos für ihn gewesen; ja bei näherer Überlegung überfiel ihn sogar eine gewisse Angst davor, in fremden Gegenden allein und ganz seinen Erinnerungen verfallen umherzuirren. So schwand die leichte Beruhigung, die der Anfang des Frühlings gebracht, wieder dahin. Auch die Gesellschaft seiner Kollegen im Wirtshaus wurde ihm unangenehm, er kam seltener und ging früher fort. Einmal geschah es ihm, daß ihm nachts beim Nachhausegehen auf der Stiege sein Licht verlöschte, da überfiel ihn eine solche Furcht, daß er sich auf den Stufen hinsetzte, zusammenkauerte und wimmerte. Er suchte zitternd nach seinen Streichhölzern. Als er eines fand und Licht machte und eine flackernde Helle um ihn sich verbreitete, versuchte er über sich zu lächeln. Absichtlich behielt er das Lächeln auf den Lippen, bis er in seinem Zimmer war. Da erblickte er sich im Spiegel und erkannte sich nicht. Er trat näher hin – so nah, daß sein Hauch den Spiegel trübte. In der einen Hand hielt er den Leuchter mit der Kerze, er stellte ihn auf die Kommode, über der der Spiegel hin, dann wich er zurück, setzte sich aufs Bett und entkleidete sich rasch mit dem Gefühl, daß er sich ins Bett flüchten müßte. Als er ausgestreckt dalag, zog er die Decke übers Gesicht. Da fiel ihm ein, daß das Licht noch brannte, aber er wagte es nicht aufzustehen. Er nahm sich vor, so lang wach zu[324] bleiben, bis die Kerze gänzlich heruntergebrannt war. Langsam entfernte er die Decke von den Augen, da stand das Licht, und im Spiegel sah er es noch einmal. Er starrte hin und war nach wenigen Sekunden eingeschlafen.
Am nächsten Morgen beim Aufwachen fiel ihm aber nicht vor allem seine Angst von gestern Abend ein, sondern jener Spaziergang auf die Sofienalpe vor wenigen Tagen. In der Erinnerung erschien ihm der als ein angenehmes Abenteuer, und wie etwas Erlösendes tauchte der Gedanke in ihm auf, daß er ja jeden Nachmittag aufs Land gehen, sich abends immer in einen Wirtshausgarten setzen und junge Mädchen und Frauen betrachten konnte. Selbst im Büro während der Arbeit konnte er heute an nichts anderes denken als an Wälder und Wiesen, wo junge Weiber, Frauen und Mädchen, in leichten Sommerkleidern und mit hellen Sonnenschirmen herumgingen. Aber als er nachmittags ernstlich daran dachte, aufs Land zu fahren, war er so müde, daß ihm die Ausführung einfach unmöglich vorkam. Er legte sich angekleidet aufsein Bett und hatte das Gefühl eines Menschen, der langsam von schwerer Krankheit genest. Abends ging er sehr langsam über den Ring spazieren und hatte eine Art von stiller Freude, wenn die Blicke vorübergehender Mädchen dem seinen begegneten. Manche sah ihn auch länger an, wandte selbst leicht den Kopf nach ihm um, und ihm schien in allen diesen Blicken eine Wärme, die er lange nicht gefühlt und nach der er eine große Sehnsucht gehabt hatte. Weiter gingen seine Wünsche nicht.
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