Er fuhr etwas zusammen, als er mich sah.
»Kommen Sie einen Augenblick herein«, sagte ich, »ich möchte mit Ihnen sprechen.« Und ich führte ihn ins Eßzimmer.
»Sie sind doch sicher ein patenter Bursche«, sagte ich, »und ich möchte Sie bitten, mir einen Gefallen zu tun. Leihen Sie mir Ihre Mütze und Ihren Kittel auf zehn Minuten, und hier ist ein Goldstück dafür.«
Beim Anblick des Goldes machte er große Augen und grinste übers ganze Gesicht. »Was ist denn los?« fragte er.
»Eine Wette«, sagte ich. »Zum Erklären habe ich keine Zeit, aber wenn ich gewinnen will, muß ich die nächsten zehn Minuten ein Milchmann sein. Sie brauchen nur hierzubleiben, bis ich wiederkomme. Sie sind dann ein bißchen spät dran, aber niemand wird sich beschweren, und das Goldstück gehört Ihnen.«
»Klar«, sagte er munter. »Ich werde Ihnen doch nicht den Spaß verderben, Herr Baron. Hier sind die Klamotten.«
Ich setzte seine blaue Mütze auf und zog den weißen Kittel an, nahm die Kannen auf, schlug meine Tür zu und ging pfeifend die Treppe hinunter. Der Portier unten befahl mir, das Maul zu halten - die Verkleidung schien ausreichend zu sein.
Zuerst schien niemand auf der Straße zu sein. Dann sah ich hundert Meter entfernt einen Polizisten, und auf der anderen Seite schlurfte ein Pennbruder vorbei. Irgend etwas veranlaßte mich, nach dem Haus gegenüber zu blicken, und richtig, an einem Fenster des ersten Stocks erschien ein Gesicht. Der Pennbruder sah im Vorbeigehen hinauf, und es kam mir vor, als werde ein Signal ausgetauscht.
Ich kreuzte die Straße, fröhlich pfeifend und den munter schwingenden Gang des Milchmanns nachahmend. Dann bog ich in die erste Seitenstraße ein und dann wieder links in einen Weg, der an einem leeren Grundstück vorbeiführte. Auf diesem Weg war niemand in Sicht, und ich ließ die Kannen hinter den Bauzaun fallen und warf Mütze und Kittel hinterher. Gerade hatte ich meine eigene Mütze aufgesetzt, als ein Briefträger um die Ecke kam. Ich bot ihm einen guten Morgen, und er antwortete mir, ohne Verdacht zu schöpfen. In diesem Augenblick schlug eine nahe Kirchenuhr sieben.
Es war keine Sekunde zu verlieren. Sobald ich die Euston Road erreicht hatte, fing ich an zu rennen. Die Uhr am Euston-Bahnhof zeigte fünf nach sieben. Am St. Pankraz-Bahnhof hatte ich keine Zeit, eine Fahrkarte zu lösen, ich wußte ja auch noch gar nicht, wohin ich fahren wollte. Ein Gepäckträger zeigte mir den Bahnsteig, und als ich hinkam, sah ich den Zug gerade abfahren. Zwei Bahnbeamte verstellten mir den Weg, aber ich rannte um sie herum und kletterte in den letzten Wagen.
Drei Minuten später, als wir durch die nördlichen Vororttunnel brausten, stellte mich ein zorniger Kontrolleur. Er schrieb mir eine Fahrkarte nach Newton-Stewart aus, dieser Name war mir plötzlich wieder eingefallen, und führte mich von dem Erster-Klasse-Abteil, wo ich mich niedergelassen hatte, zu einem Raucherabteil der Dritten Klasse, in dem sich ein Matrose und eine dicke Frau mit einem Kind befanden. Schimpfend ging er weg, und während ich mir die Stirn wischte, bemerkte ich im breitesten Schottisch zu meinen Reisegefährten, was für Mühe es einen doch koste, einen Zug zu erwischen. Ich war schon in meine Rolle geschlüpft.
»Frechheit von dem Schaffner«, sagte die Dame bitter. »Dem sollte mal einer auf gut schottisch Bescheid sagen. Er hat schon geschimpft, daß das Gör keine Fahrkarte hat, und sie wird doch erst August übers Jahr vier, und er hat auch geschimpft, weil dieser Herr hier ausgespuckt hat.«
Der Matrose stimmte mürrisch zu, und ich fing mein neues Leben in einer Atmosphäre des Protests gegen die Obrigkeit an. Es fiel mir ein, daß ich noch vor einer Woche die Welt langweilig gefunden hatte.
3
DAS ABENTEUER MIT DEM LITERATURBEFLISSENEN GASTWIRT
An diesem Tage nordwärts zu reisen, stimmte mich geradezu andächtig. Es war herrliches Maiwetter, jede Weißdornhecke stand in Blüte, und ich fragte mich, warum ich, ein immerhin noch unabhängiger Mann, so lange in London geblieben war und mir nicht die Wohltat dieser himmlischen Landschaft gegönnt hatte.
In den Speisewagen wagte ich nicht zu gehen, aber in Leeds kaufte ich einen Freßkorb und teilte ihn mit der dicken Frau.
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