Meiner Meinung nach hatte ich immer noch einen ganz guten Vorsprung, denn - rechnete ich mir aus - es würde einige Stunden dauern, ehe der Verdacht auf mich fiel, und noch einige weitere Stunden, um den Mann zu identifizieren, der am St. Pankraz-Bahnhof in den Zug gestiegen war.

Es war wieder dasselbe heitere, klare Frühlingswetter, und ich brachte es einfach nicht fertig, mir Sorgen zu machen. Statt dessen war ich in besserer Laune als seit Monaten. Ich nahm meinen Weg über einen langen Hügelrücken im Moorland, den der Hirte den Cairnsmore von Fleet genannt hatte. Brütende Brachvögel und Kiebitze riefen überall, und die grünen "Weideflächen an den Bächen waren mit Lämmern gesprenkelt. Alle Trägheit der vergangenen Monate glitt von mir ab, und ich schritt aus wie ein vierjähriges Rennpferd. Allmählich kam ich zu einer Anhöhe im Moor, die ins Tal eines kleinen Flußlaufes abfiel, und eine Meile entfernt sah ich überm Heidekraut den Rauch einer Lokomotive.

Als ich die Bahnstation erreichte, erwies sie sich als ideal für meine Zwecke. Ringsum war nichts als das Moor, es ließ nur Raum für die eingleisige Strecke, den schmalen Bahnsteig, einen Warteraum, ein Büro, das Häuschen des Stationsvorstehers und einen kleinen Garten mit Stachelbeerbüschen und Federnelken. Keine Straße schien von irgendwo hierher zu führen, und wie um die Einsamkeit vollkommen zu machen, plätscherten eine halbe Meile entfernt die Wellen eines Bergsees an ihr Ufer aus grauem Granit. Ich wartete im hohen Heidekraut, bis ich den Rauch eines nach Osten fahrenden Zuges am Horizont sah. Dann ging ich in das winzige Stationsgebäude und löste eine Fahrkarte nach Dumfries.

Die einzigen Passagiere im Wagen waren ein alter Hirte und sein Hund - eine glotzäugige Bestie, der ich nicht traute. Der Mann schlief, und auf dem Polster neben ihm lag der Scotsman, die heutige Morgenausgabe. Begierig griff ich danach, die würde mir etwas zu sagen haben.

Es standen zwei Spalten darin über den Portland Place-Mord, so nannten sie das. Mein Diener Paddock hatte Alarm geschlagen und den Milchmann verhaften lassen. Der arme Teufel. Es sah aus, als habe er sein Goldstück sauer verdienen müssen; aber für mich hatte es sich gelohnt: er hatte die Polizei fast den ganzen Tag beschäftigt. Unter >Neueste Nachrichten< fand ich die Fortsetzung der Meldungen. Der Milchmann sei auf freien Fuß gesetzt worden, las ich, und der wahre Verbrecher, dessen Identität die Polizei nicht preisgab, solle mit einer nördlichen Bahnlinie aus London geflohen sein. Es kam auch eine kurze Notiz über mich als Eigentümer der Wohnung. Ich nahm an, die Polizei habe sie in dem ungeschickten Versuch, mich vom Mangel jeglichen Verdachts gegen mich zu überzeugen, veranlaßt.

Sonst stand nichts in der Zeitung, nichts über Außenpolitik oder Karolides oder alles das, was Scudder interessiert hatte. Ich legte das Blatt zurück und stellte fest, daß wir uns der Bahnstation näherten, an der ich gestern ausgestiegen war. Der Kartoffeln pflanzende Stationsvorsteher war zu einiger Aktivität aufgestört worden, denn der in westlicher Richtung fahrende Zug wartete auf dem Seitengleis, um uns passieren zu lassen, und aus ihm waren drei Männer ausgestiegen, die den Kartoffelgärtner ausfragten. Ich nahm an, daß sie von der örtlichen Polizei waren und auf Befehl von Scotland Yard meine Spur bis zu dieser winzigen Station verfolgt hatten. Vorsichtig drückte ich mich in den Schatten und beobachtete sie aufmerksam. Einer hatte ein Buch und machte sich Notizen. Der alte Mann schien wortkarg zu sein, aber das Kind, das mir die Fahrkarte abgenommen hatte, war sehr gesprächig. Alle miteinander blickten über das Moor hinaus, wo die weiße Straße verlief. Ich hoffte, sie würden meine Spur dort aufnehmen.

Als wir abfuhren, wachte mein Reisegefährte auf. Er sah mich mit schwimmendem Blick an, versetzte seinem Hund einen giftigen Tritt und fragte, wo er sei. Offensichtlich war er sehr betrunken.

»Das kommt davon, wenn man Abstinenzler ist«, bemerkte er mit bitterer Reue.

Ich gab meinem Erstaunen Ausdruck, daß ich in ihm einen überzeugten Blaukreuzler begegnet sei.

»Jawohl, ich bin geschworener Abstinenzler«, sagte er aufgebracht.