»Hab's am letzten Martinstag geschworen, hab' seitdem keinen Tropfen Whisky angerührt. Nicht mal an Silvester, wo's mir blutsauer geworden ist.«

Er schwang die Füße auf den Sitz und vergrub den zerwühlten Kopf in den Polstern.

»Das hab' ich nun davon«, stöhnte er, »'nen Kopf so heiß wie die Hölle und zwei Augen, die überzwerch nach dem Sabbat schielen.«

»Was war's denn?« fragte ich.

»Ein Drink, den nennen die Brandy. Weil ich Abstinenzler bin, hab' ich keinen Whisky angerührt, sondern den ganzen Tag schlückchenweise diesen Brandy genippt, und jetzt muß ich es bestimmt vierzehn Tage lang büßen.« Seine Stimme erstarb in einem Gemurmel, und der Schlaf legte seine schwere Hand wieder auf ihn.

Ich hatte an irgendeiner Station weiter unten aussteigen wollen, aber plötzlich bot mir der Zug eine bessere Gelegenheit, indem er vor einer Stelle anhielt, wo unter dem Bahndamm hindurch ein moorbrauner Fluß rauschte. Ich blickte hinaus und stellte fest, daß alle Fenster im Zug geschlossen waren, und draußen war niemand zu sehen. Ich öffnete also die Tür und ließ mich schnell in das dichte Haselgebüsch neben dem Bahndamm fallen.

Alles wäre gut gegangen, wenn der verflixte Hund nicht gewesen wäre. Er meinte wohl, ich sei mit seines Herrn Habe auf und davon, und fing an zu bellen, fast hätte er mich an der Hose gepackt. Davon wachte der Hirte auf, brüllend stand er an der Abteiltür, weil er glaubte, ich habe Selbstmord verübt. Ich kroch durch das Dickicht bis zum Ufer und lief in der Deckung der Büsche etwa hundert Meter weit. Dann spähte ich aus meinem Versteck rückwärts und sah den Schaffner und ein paar Reisende um die offene Tür herumstehen und in meine Richtung blicken. Mehr Publikum hätte mein Abgang nicht gehabt, wenn ich dazu einen Trompeter und einen Bläserchor engagiert hätte.

Zum Glück sorgte der betrunkene Hirte für Ablenkung. Samt seinem Hund, den er an einem um den eigenen Leib geschlungenen Strick angebunden hatte, stürzte er plötzlich Hals über Kopf aus dem Abteil, schlug mit dem Kopf auf den Schienen auf und rollte ein Stück die Böschung hinunter auf das Wasser zu. Während der Rettungsaktion biß der Hund jemanden, denn ich hörte lautes Fluchen. Sofort hatten sie mich vergessen, und als ich eine weitere Meile gekrochen war und wagte, mich umzusehen, war der Zug angefahren und verschwand im Durchstich eines Hügels.

Ich fand mich in einem weiten Halbkreis von Moorland, dessen Radius der braune Fluß war; die hohen Berge bildeten den nördlichen Halbkreis. Kein Anzeichen menschlichen Lebens war zu sehen oder zu hören, nur das plätschernde Wasser und das unaufhörliche Rufen der Brachvögel. Dennoch - so sonderbar es war - empfand ich zum erstenmal das Entsetzen des Gejagtseins. Ich dachte nicht an die Polizei, sondern an die anderen Leute, die wußten, daß ich Scudders Geheimnis kannte, und die nicht riskieren konnten, mich am Leben zu lassen. Ich war sicher, daß sie mich mit einem Eifer und einer Umsicht verfolgen würden, von denen das britische Auge des Gesetzes keine Ahnung hatte, und hatten sie mich einmal in den Fängen, so gab es für mich keine Gnade mehr.

Ich blickte zurück, aber in der Landschaft war nichts zu sehen. Die Sonne glitzerte auf dem Metall der Schienen und auf den nassen Steinen im Fluß, und einen friedlicheren Anblick hätte man auf der Welt nicht finden können. Trotzdem fing ich an zu rennen. Ich duckte mich tief in die Wasserrinnen im Moor und rannte, bis mir der Schweiß in die Augen lief und mich blendete. Die böse Vorahnung verließ mich nicht, bis ich den Kamm eines Höhenzuges erreicht hatte und mich keuchend auf einem Vorsprung hoch über den Quellen des braunen Moorflusses niederwarf.

Von meinem Aussichtspunkt konnte ich das ganze Moor bis hinüber zur Bahnlinie und zum Süden überblicken, wo grüne Felder das Heidekraut ablösten. Ich habe Augen wie ein Habicht, aber ich konnte in der ganzen weiten Landschaft keine Bewegung entdecken. Dann blickte ich nach Osten über den Kamm und sah eine ganz andere Gegend: flache grüne Täler mit üppigen Fichtenbeständen und schwache Staublinien, die Land-Straßen vermuten ließen. Zuallerletzt bildete ich in den blauen Maihimmel hinauf und sah etwas, was meinen Puls erheblich beschleunigte ...

Tief unten im Süden stieg ein Eindecker in den Himmel hinauf. Ich war so sicher, als hätte es mir jemand gesagt, daß das Flugzeug nach mir suchte und daß es nicht der Polizei gehörte. Eine Stunde oder zwei beobachtete ich es aus einem Büschel Heidekraut heraus. Es flog an der Hügelkette entlang und dann in engen Kreisen über dem Tal, durch das ich heraufgekommen war. Dann schien es den Plan zu ändern, stieg sehr hoch und flog nach Süden zurück.

Diese Spionage aus der Luft gefiel mir gar nicht, und die Landschaft, die ich mir zum Versteck gewählt hatte, schien mir nun gar nicht mehr so schön. Diese heidebewachsenen Hügel gaben mir keine Deckung, wenn mein Feind sich in der Luft befand. Ich mußte mir eine andere Art von Zuflucht suchen.