Ich flehte ihr Mitleid an, doch sie schrieen alle zusammen:

»Kein Mitleid, Madame, lassen Sie sich nicht er weichen. Sie gebe ihre Papiere heraus oder man werfe sie ins Gefängnis.«

Die Oberin blieb unbeweglich, sah mich an und sagte zu mir:

»Gieb deine Papiere, Unglückliche, und enthülle, was sie enthalten.«[46]

»Madame,« riefen sie ihr zu, »verlangen Sie sie nicht mehr von ihr, Sie sind zu gütig; Sie kennen sie nicht, sie ist eine unbeugsame Seele, mit der man nur mit den äußersten Mitteln fertig werden kann; sie treibt Sie selbst dazu, um so schlimmer für sie!«

»Meine teure Mutter,« sprach ich zu ihr, »ich habe nichts gethan, was die Menschen beleidigen könnte, das schwöre ich Ihnen.«

»Das ist nicht der Schwur, den ich von Ihnen verlange.«

»Sie wird über Sie oder über uns an den Erzbischof oder den Großvikar geschrieben haben; Gott mag wissen, wie sie unser Haus geschildert hat; man glaubt ja das Schlechte so leicht!«

Die Oberin schwieg; dann fuhr sie fort:

»Sehen Sie her, Schwester Susanne ...«

Ich erhob mich schnell und sagte zu ihr:

»Madame, ich habe alles gesehen und weiß, daß ich mich zu Grunde richte; thun Sie mit mir, was Ihnen beliebt, hören Sie auf Ihre Wut, vollenden Sie Ihre Ungerechtigkeit.«

Mit diesen Worten hielt ich meine Hände hin, und meine Gefährtinnen bemächtigten sich ihrer. Man riß mir meinen Schleier ab und entkleidete mich ohne Scham. Auf meinem Busen fand man ein kleines Bild meiner früheren Oberin; man nahm mir dasselbe ab, und ich bat, es noch einmal küssen zu dürfen, doch diese Bitte wurde verweigert. Man warf mir ein Hemd über, zog mir meine Strümpfe aus, bedeckte mich mit einem Sack und führte mich mit nackten Füßen durch die Gänge. Ich schrie und rief um Hilfe, doch man hatte die Glocke geläutet, um anzuzeigen, daß niemand erscheinen dürfe. Ich flehte den Himmel an, warf mich zur Erde, doch man schleppte mich weiter. Als ich am Fuß der Treppen anlangte, hatte ich blutige Füße[47] und wunde Beine; ich befand mich in einem Zustand, der Herzen von Stein hätte rühren können. Indessen öffnete man mit großen Schlüsseln die Thür eines kleineren, dunkeln, unterirdischen Raumes, in welchem man mich auf eine von der Feuchtigkeit halb verfaulte Strohmatte warf. Dort fand ich ein Stück Schwarzbrot und einen Krug Wasser nebst einigen plumpen, notwendigen Gefäßen. Die Matte, die an einem Ende zusammengerollt war, bildete ein Kopfkissen, außerdem erblickte ich auf einem Steinblock einen Totenkopf und ein hölzernes Kruzifix. Meine erste Absicht war, mich zu töten; ich fuhr mir mit den Händen nach der Kehle und zerriß mit den Zähnen meine Kleider, dazu stieß ich ein entsetzliches Geschrei aus und brüllte wie ein wildes Tier. Ich schlug mit dem Kopf gegen die Mauern und zerfleischte mich, bis das Blut floß; ich suchte mich zu töten, bis mich die Kräfte verließen, was nicht lange dauerte. Drei Tage habe ich hier zugebracht, und ich glaubte, ich würde mein ganzes Leben hier bleiben. Jeden Morgen trat eine meiner Henkerinnen ein und sagte zu mir:

»Gehorchen Sie unserer Oberin, und Sie werden dieses Gefängnis verlassen.«

»Ich habe nichts gethan und weiß nicht, was man von mir verlangt.«

Am dritten Tage gegen 9 Uhr öffnete man die Thür, und dieselben Nonnen erschienen, die mich hergebracht hatten. Nachdem sie das Lob unserer Oberin gesungen, teilten sie mir mit, sie ließe mir Gnade widerfahren, und man würde mich in Freiheit setzen.

»Es ist zu spät,« sagte ich zu ihnen, »laßt mich hier, ich will sterben.«

Indessen hatten sie mich hochgehoben und zogen mich fort; man führte mich wieder in meine Zelle, wo ich die Oberin bereits vorfand.

»Ich habe Gott über Ihr Schicksal befragt, er hat[48] mein Herz gerührt; er wünscht, daß ich Mitleid mit Ihnen haben soll, und ich gehorche ihm. Werfen Sie sich auf die Kniee, und bitten Sie ihn um Verzeihung!«

Ich warf mich zur Erde und sprach:

»Mein Gott, ich bitte dich um Verzeihung wegen der Fehler, die ich begangen; vergieb mir, wie du ja auch am Kreuze für mich betetest.«

»Das ist noch nicht alles,« sagte die Oberin, »schwören Sie mir beim heiligen Gehorsam, daß Sie nie von dem, was hier vorgegangen, sprechen werden.«

»Was Sie gethan, ist also sehr schlecht, da Sie von mir die eidliche Versicherung fordern, daß ich darüber schweigen werde? Niemand soll etwas erfahren als Ihr Gewissen, das schwöre ich Ihnen.«

»Sie schwören es?«

»Ja, ich schwöre es Ihnen!«

Hierauf nahmen sie mir die Gewänder wieder ab, die sie mir gegeben, und ließen mich meine eigenen Kleider wieder anziehen.

Nach dieser Zeit nahm ich meinen Platz in der Kirche wieder ein und fügte mich den Regeln des Hauses.

Ich hatte mein Papier nicht vergessen und ebensowenig die junge Schwester, der ich dasselbe übergeben hatte. Einige Tage, nachdem ich mein Gefängnis verlassen, fühlte ich mich im Chor, gerade in demselben Augenblick, als ich es ihr gegeben hatte, das heißt, als wir uns auf die Kniee warfen, zu einander neigten und in unseren Betstühlen verschwanden, leicht an meinem Kleide gezogen; ich streckte die Hand aus, und man gab mir einen Zettel, der nur folgende Worte enthielt:

»Welche Sorgen habe ich Ihretwegen ausgestanden, und was soll ich mit diesem gräßlichen Papier anfangen?«

Nachdem ich diese Worte gelesen, rollte ich den Zettel in meinen Händen zusammen und verschluckte ihn. Das[49] alles spielte sich zu Beginn der Fastenzeit ab. Die Zeit nahte, wo die Neugier, die Klostermusik zu hören, die gute und schlechte Gesellschaft nach Longchamp lockt. Ich hatte eine sehr schöne Stimme, die nicht besonders gelitten hatte. In den Klöstern widmet man den kleinsten Interessen eine große Aufmerksamkeit, daher schonte man mich ein wenig. Ich erfreute mich einer etwas größeren Freiheit. Die Schwestern, welche ich im Gesang unterrichtete, konnten ungehindert zu mir kommen; dazu gehörte auch diejenige, der ich meine Denkschrift anvertraut hatte. In den Erholungsstunden, die wir im Garten zubrachten, nahm ich sie beiseite und ließ sie singen, und während sie sang, sprach ich folgendes zu ihr:

»Sie kennen viele Leute, ich aber kenne niemand. Ich möchte nicht, daß Sie sich irgend einer Gefahr aussetzen; lieber möchte ich hier sterben, als daß man auf Sie Verdacht werfen könnte, mir gedient zu haben. Meine Freundin, Sie wären verloren, das weiß ich, und mich würde es nicht retten; aber selbst wenn ich gerettet werden könnte, so würde ich doch um diesen Preis darauf verzichten.«

»Lassen wir das,« sagte sie zu mir, »um was handelt es sich?«

»Es handelt sich darum, diese Denkschrift irgend einem geschickten Advokaten zugehen zu lassen, ohne daß er erfährt, aus welchem Hause sie kommt, und eine Antwort von ihm zu erhalten, die Sie mir in der Kirche oder anderswo zustellen werden.«

»Übrigens,« flüsterte sie mir zu, »was haben Sie denn mit meinem Billet angefangen?«

»Seien Sie unbesorgt, ich habe es verschluckt.«

»Seien auch Sie unbesorgt, ich werde an Ihre Sache denken.«

Sie hielt ihr Wort und unterrichtete mich davon in unserer gewöhnlichen Weise. Die heilige Woche kam heran,[50] und der Zulauf zur Messe war groß. Ich sang ziemlich gut, meine jungen Schülerinnen waren vortrefflich vorbereitet, einige hatten Stimme, fast alle Ausdruck und Taktgefühl, und es schien mir, als habe sie das Publikum mit Vergnügen gehört und wäre mit dem Erfolge meiner Bestrebungen zufrieden gewesen. Es ist bekannt, daß man am Donnerstag das heilige Sakrament von seinem Tabernakel auf einen besonderen Altar überführt, wo es bis zum Freitag morgen bleibt.