Diese Zwischenzeit wird von ununterbrochenen Betübungen der Nonnen ausgefüllt, die sich eine nach der andern oder zu zwei und zwei nach dem Altar begeben. Es ist eine Tafel vorhanden, die einer jeden ihre Stunde anzeigt, und zu meiner großen Zufriedenheit las ich: »Die Schwester Susanne und die Schwester Sanct Ursula von zwei bis drei Uhr morgens.« Zur angegebenen Stunde begab ich mich zum Hochaltar, und meine Gefährtin war bereits dort. Wir stellten uns nebeneinander auf die Stufen des Altars, warfen uns zusammen nieder und beteten eine halbe Stunde zu Gott. Nach Verlauf dieser Zeit reichte mir meine junge Freundin die Hand, drückte sie mir und sagte: »Wir werden vielleicht nie wieder Gelegenheit finden, uns so lange und ungehindert zu unterhalten. Ich habe Ihre Denkschrift nicht gelesen, doch ich kann leicht erraten, was sie enthält, und werde in kürzester Zeit die Antwort darauf erhalten. Doch wenn diese Antwort Ihnen nun gestattet, die Ungültigkeit Ihrer Gelübde nachzusuchen, sehen Sie nicht ein, daß Sie notwendigerweise mit Rechtsgelehrten konferieren müssen?«

»Das ist wahr.«

»Daß Sie der Freiheit bedürfen?«

»Das ist ebenfalls wahr.«

»Und daß Sie, wenn Sie klug handeln, die augenblickliche Stimmung benützen müssen, um Ihr Ziel zu erreichen?«

»Daran habe ich auch gedacht.«[51]

»Sie werden es also thun?«

»Ich werde sehen.«

»Noch eins! Wenn Ihre Angelegenheit nun eingeleitet wird, so werden Sie hier der ganzen Wut der Klostergemeinschaft anheimgegeben sein. Haben Sie diese Verfolgungen vorausgesehen?«

»Sie werden nicht größer sein als die, die ich schon erduldet.«

»Das weiß ich nicht.«

»Verzeihen Sie; erstens wird man nicht wagen, über meine Freiheit zu verfügen.«

»Und weshalb?«

»Weil ich dann unter dem Schutze der Gesetze stehen werde; ich werde mich sozusagen zwischen der Welt und dem Kloster befinden; ich werde Sie alle zu Zeugen anrufen; ich werde den Mund öffnen dürfen, und man wird mir volle Freiheit geben, mich zu beklagen; man wird nicht wagen, ein Unrecht zu begehen, das ich zur Sprache bringen könnte; man wird sich hüten, eine schlechte Sache noch schlimmer zu machen.«

»Aber es ist doch ganz unglaublich, daß Sie solch eine Abneigung gegen einen Beruf hegen, dessen Pflichten Sie so leicht und gewissenhaft erfüllen.«

»Ich fühle diese Abneigung einmal; ich habe sie bei der Geburt empfangen, und sie wird mich nicht verlassen. Ich würde schließlich eine schlechte Nonne werden, und dem will ich zuvorkommen.«

»Doch wenn Sie unglücklicherweise unterliegen sollten?«

»Wenn ich unterliege, so werde ich um die Erlaubnis bitten, das Kloster zu wechseln, oder sterben.«

»Man hat lange zu leiden, bevor man stirbt. Oh, meine Freundin, Ihr Schritt läßt mich erzittern; ich fürchte, Ihr Gelübde wird nicht gelöst werden, und ich fürchte auch, daß es doch geschieht; wenn das aber der Fall ist, was[52] soll aus Ihnen werden? Was werden Sie in der Welt anfangen? Sie haben Figur, Geist und Talente; doch man sagt, das führe, wenn man tugendhaft ist, zu nichts, und ich weiß, Sie werden der Tugend nie die Treue brechen.«

»Sie lassen mir Gerechtigkeit widerfahren, der Tugend aber nicht, auf sie allein zähle ich; je seltener sie unter den Menschen ist, desto höher muß sie geschätzt werden. Man lobt sie, doch man thut nichts für sie. Das eben ermutigt mich und hält mich in meinem Plane aufrecht. Was man auch gegen mich einwenden mag, man wird stets meine Sitten achten; man wird wenigstens nicht sagen, wie man es bei den meisten andern thut, daß ich von einer ungeregelten Leidenschaft aus meinem Berufe getrieben worden bin; ich sehe niemand, ich kenne niemand. Ich verlange nichts weiter als die Freiheit, weil das Opfer meiner Freiheit kein freiwilliges gewesen ist. Haben Sie meine Denkschrift gelesen?«

»Nein; ich habe das Päckchen, welches Sie mir gegeben haben, geöffnet, weil es ohne Adresse war und ich geglaubt habe, es wäre für mich bestimmt; doch die ersten Zeilen haben mich eines andern belehrt, und ich habe nicht weiter gelesen ... Doch die Stunde unserer Andacht geht zu Ende, knieen wir nieder, damit die, die uns ablösen, uns in der Lage vorfinden, die wir einnehmen müssen. Bitten Sie Gott, daß er Sie erleuchte und leite; ich werde mein Gebet und meine Seufzer mit den Ihrigen vereinigen.«

Meine Seele fühlte sich ein wenig erleichtert. Meine Gefährtin richtete sich auf und betete; ich warf mich zur Erde, meine Stirn lehnte sich an die letzte Stufe des Altars, und meine Arme streckten sich nach den höheren Stufen aus. Ich glaube nicht, daß man sich je mit größerem Troste und größerer Inbrunst an Gott gewendet hat. Das Herz schlug mir heftig, und ich vergaß in einem Augenblick alles, was mich umgab. Ich weiß nicht, wie[53] lange ich in dieser Lage blieb, noch wie lange ich in derselben geblieben sein würde, doch ich bot ein äußerst rührendes Schauspiel für meine Gefährtin und die beiden Nonnen, die dazu gekommen waren. Als ich mich erhob, glaubte ich, allein zu sein, doch ich täuschte mich; sie waren alle drei hinter mich getreten und brachen in Thränen aus; sie hatten nicht gewagt, mich zu unterbrechen und warteten nun, daß ich von selbst aus dem Zustand der Geistesabwesenheit und Aufregung erwachen sollte, in dem ich mich befand. Als unsere Andacht beendet war, überließen wir unseren Nachfolgerinnen den Platz und umarmten uns, meine junge Gefährtin und ich, bevor wir uns trennten, sehr zärtlich.

Die Scene am Altar erregte Aufsehen; dazu kam noch der Erfolg unserer Messe am Charfreitag; ich sang, ich spielte Orgel, und man klatschte mir Beifall. Man kam mir entgegen, und zwar die Oberin zuerst. Einige Personen der vornehmen Gesellschaft suchten mich kennen zu lernen, und das paßte zu gut zu meinem Plane, als daß ich es hätte von der Hand weisen können. Ich wurde dem ersten Präsidenten vorgestellt, der Frau von Soubise und einer Menge ehrenwerter Leute, Mönche, Minister, Offiziere, Beamte, weltliche und fromme Frauen.

Der erste Beweis von Güte, den man mir gab, bestand darin, daß man mich wieder in meine Zelle zurückführte. Ich hatte den Mut, das kleine Bild unserer Oberin wieder zu verlangen, und man wagte nicht, es mir zu verweigern; es hat wieder seinen Platz auf meinem Herzen eingenommen und wird dort so lange bleiben, wie ich lebe. Alle Morgen ist es das erste, meine Seele zu Gott zu erheben, das zweite, das Bild zu küssen. Wenn ich beten will und meine Seele kalt fühle, so nehme ich's von meinem Halse, lege es vor mich hin, sehe es an, und es begeistert mich.

Ich erhielt die Antwort auf meine Denkschrift, sie war von einem Herrn Manouri, der sich weder günstig, noch[54] ungünstig aussprach. Bevor man über die Angelegenheit ein Urteil abgeben konnte, verlangte man eine große Anzahl mündlicher Aufklärungen, die man schwer geben konnte, ohne zusammenzukommen; ich gab deshalb meinen Namen an und forderte Herrn Manouri auf, sich nach Longchamp zu begeben. Wir unterhielten uns sehr lange Zeit und verabredeten einen Briefwechsel, durch welchen er mir sicher seine Fragen zukommen lassen und ich ihm meine Antworten schicken sollte.