Ich meinerseits verwandte alle Zeit, die er meiner Angelegenheit widmete, dazu, um die Gemüter vorzubereiten, für mein Schicksal zu interessieren und mir Gönner zu verschaffen. Ich nannte meinen Namen und enthüllte mein Betragen in dem ersten Kloster, das ich bewohnt, erzählte, was ich in dem Elternhause gelitten, die Qualen, die ich im Kloster erduldet hatte, meinen Protest in Sainte-Marie, meinen Aufenthalt in Longchamp, meine Einkleidung, die Ablegung meines Gelübdes, die Grausamkeit, mit der ich behandelt worden, und so weiter, und so weiter. Man beklagte mich und bot mir Hilfe an, und ich nahm mir vor, den guten Willen, den man mir bezeigte, zur Zeit, da ich seiner bedürfen würde, zu benutzen, ohne vor der Hand weitere Erklärungen abzugeben. Im Hause wurde nichts bekannt; ich hatte von Rom die Erlaubnis erhalten, gegen meine Gelübde Einspruch zu erheben, und der Prozeß stand unmittelbar bevor, als man sich noch in tiefster Sicherheit wiegte. Man kann sich die Überraschung unserer Oberin denken, als man ihr im Namen der Schwester Marie-Susanne Simonin einen Protest gegen ihre Gelübde übergab mit dem Ersuchen, das Ordenskleid ablegen, das Kloster verlassen und über sich verfügen zu dürfen, wie es ihr beliebte.

Kaum hatte die Oberin die gerichtliche Zustellung meines Gesuches erhalten, als sie in meine Zelle gestürzt kam und zu mir sagte:[55]

»Wie, Schwester Sainte-Susanne, Sie wollen uns verlassen?«

»Ja, Madame!«

»Und Sie wollen gegen Ihre Gelübde protestieren?«

»Ja, Madame!«

»Haben Sie sie denn nicht freiwillig abgelegt?«

»Nein, Madame!«

»Und wer hat Sie dazu gezwungen?«

»Alles!«

»Ihr Herr Vater?«

»Ja, mein Vater!«

»Ihre Frau Mutter?«

»Ja!«

»Und warum haben Sie nicht am Fuße des Altars protestiert?«

»Ich gehörte mir so wenig selbst an, daß ich mich nicht einmal erinnere, der Ceremonie beigewohnt zu haben.«

»Wie können Sie nur so sprechen?!«

»Ich spreche die Wahrheit!«

»Wie? Sie haben nicht gehört, wie der Priester Sie fragte: Schwester Susanne Simonin, versprechen Sie Gott Gehorsam, Keuschheit und Armut?«

»Ich erinnere mich nicht daran!«

»Sie haben doch mit ›ja‹ geantwortet?«

»Ich habe keine Erinnerung daran!«

»Und Sie bilden sich ein, daß die Leute Ihnen glauben werden?«

»Ob sie mir nun glauben oder nicht, die Thatsache bleibt deshalb doch dieselbe.«

»Teures Kind, bedenken Sie doch, welche Mißbräuche daraus erfolgen würden, wenn man auf solche Vorwände hörte! Sie haben einen unbedachten Schritt gethan und sich von einem Gefühl der Rache hinreißen lassen; Sie haben sich die Strafen zu Herzen genommen, die ich Ihnen[56] auferlegen mußte; Sie haben geglaubt, sie seien hinreichend, um Ihr Gelübde zu brechen, doch Sie haben sich getäuscht, das darf nicht geschehen, weder vor Gott, noch vor den Menschen. Bedenken Sie, daß der Meineid das größte aller Verbrechen ist, daß Sie es in Ihrem Herzen schon begonnen haben und nun im Begriffe stehen, es zu vollenden.«

»Ich werde nicht meineidig werden, denn ich habe nicht geschworen.«

»Wenn man einiges Unrecht gegen Sie begangen hat, ist das nicht wieder gut gemacht worden?«

»Nicht dieses Unrecht hat mich zu dem Entschluß geführt.«

»Was denn?«

»Der Mangel an Beruf, der Mangel an Freiheit!«

»Wenn Sie sich nicht berufen fühlten, warum sagten Sie das nicht, als es noch Zeit war?«

»Was hätte das für einen Zweck gehabt?«

»Warum zeigten Sie nicht dieselbe Festigkeit wie in Sainte-Marie?«

»Hängt die Festigkeit von uns ab? Beim ersten Male war ich gefesselt, beim zweiten war ich geistesabwesend.«

»Warum riefen Sie nicht einen Rechtsgelehrten zu Hilfe? Warum protestierten Sie nicht? Sie hatten doch vierundzwanzig Stunden Zeit, um zurückzutreten.«

»Wußte ich denn etwas von diesen Formalitäten? Und hätte ich etwas davon gewußt, war ich denn imstande, mich ihrer zu bedienen? Haben Sie nicht selbst die Gemütsstörung bemerkt, die sich meiner bemächtigt hatte? Wenn ich Sie nun zum Zeugen nehmen würde, könnten Sie beschwören, daß ich geistig gesund gewesen bin?«

»Ja, das werde ich beschwören.«

»Nun, Madame, so werde nicht ich, sondern Sie meineidig sein.«

»Mein Kind, Sie werden einen unnützen Skandal[57] erregen, seien Sie vernünftig, ich bitte Sie darum in Ihrem eigenen Interesse und dem des Hauses; solche Angelegenheiten werden nicht ohne peinliche Erörterungen ausgetragen.«

»Das wird nicht meine Schuld sein!«

»Die Menschen sind boshaft, man wird die ungünstigsten Vermutungen über Sie anstellen und wird glauben ...«

»Mag man glauben, was man will.«

»Aber sprechen Sie doch aufrichtig zu mir, wenn Sie mit irgend etwas unzufrieden sind, es giebt ja ein Mittel dagegen.«

»Ich war und bin und werde mein ganzes Leben mit meinem Schicksal unzufrieden sein.«

»Sollte der Geist der Verführung, der uns unaufhörlich umgiebt und uns zu verderben sucht, die zu große Freiheit, die man Ihnen seit kurzem bewilligt hat, benutzt haben, um Ihnen eine verhängnisvolle Neigung einzuflößen?«

»Nein, Madame! Sie wissen, ich schwöre nicht ohne Not; und so erkläre ich Ihnen denn vor Gott, mein Herz ist unschuldig und hat nie ein schlechtes Gefühl empfunden.«

»Dann begreife ich Sie nicht.«

»Und doch, Madame, ist nichts leichter zu begreifen. Jeder hat seinen Charakter, und ich habe eben den meinen; Sie lieben das Klosterleben, und ich hasse es. Ich würde hier zu Grunde gehen, denn ich bin und werde stets eine schlechte Nonne sein.«

»Und weshalb? Niemand erfüllt seine Pflichten besser als Sie.«

»Ja, aber nur widerwillig.«

»Um so größer ist Ihr Verdienst.«

»Darüber steht nur mir ein Urteil zu, und ich muß gestehen, daß mein Verdienst gleich Null ist. Ich bin es müde zu heucheln, und mit einem Wort, Madame, ich erkenne[58] als wahre Nonnen nur diejenigen an, die von ihrer Neigung zu dem eingezogenen Leben hier zurückgehalten werden, und die selbst dann hierbleiben würden, wenn weder Mauer, noch Gitter sie einschlössen. Ich gehöre nicht zu dieser Zahl, mein Körper ist hier, doch nicht mein Herz, und müßte ich zwischen Tod und ewiger Einschließung wählen, so würde ich vor dem Sterben nicht zurückbeben.«

»Wie! Sie würden ohne Gewissensbisse diesen Schleier und diese Kleider ablegen?«

»Ja, Madame, denn ich habe sie ohne Überlegung und Freiheit angenommen.«

Meine Antwort versetzte sie in Bestürzung; sie erblaßte und wollte noch weiter sprechen, doch ihre Lippen zitterten, und sie wußte nicht mehr recht, was sie mir sagen sollte. Sie ging erregt in der Zelle auf und ab und rief:

»Oh, mein Gott, was werden unsere Schwestern dazu sagen? Schwester Sainte-Susanne, es ist also Ihr fester Entschluß, Sie wollen uns entehren, uns zum öffentlichen Gespräch machen und zu Grunde richten?«

»Ich will aus diesem Hause heraus!«

»Aber wenn Ihnen nur das Haus mißfällt?«

»Es ist das Haus, mein Beruf, meine Religion; ich will weder hier, noch anderswo eingeschlossen sein.«

»Mein Kind, Sie sind vom Dämon besessen; der böse Geist spricht aus Ihnen. Sehen Sie doch nur, in welchem Zustand Sie sich befinden!«

»Ich warf einen Blick auf meine Kleider, sah, daß sie in Unordnung geraten waren, und daß der Schleier auf meine Schultern gesunken war. Ich war empört über diese Reden der boshaften Oberin, die mit falscher Milde zu mir sprach, und versetzte deshalb unwillig:

»Nein, Madame, nein, ich will diese Kleidung nicht mehr, ich will sie nicht!«

Trotzdem versuchte ich meinen Schleier wieder in Ordnung[59] zu bringen; doch meine Hände zitterten, und je mehr ich mich bemühte, ihn zu entwirren, desto mehr verwirrte ich ihn; da ich ärgerlich geworden war, so ergriff ich ihn heftig, riß ihn ab, warf ihn zur Erde und blieb mit wirren Haaren vor meiner Oberin stehen. Bald jedoch kam ich wieder zu mir, ich erkannte das Unpassende meines Zustandes und die Unklugheit meiner Reden, faßte mich, so gut es ging, hob meinen Schleier auf und legte ihn wieder an; dann wandte ich mich zu ihr und sagte:

»Madame, ich schäme mich meiner Heftigkeit und bitte Sie deshalb um Verzeihung, doch Sie können daraus ersehen, wie wenig der Stand einer Nonne für mich paßt, und wie richtig es ist, wenn ich mich ihm zu entziehen suche.«

Ohne mich anzuhören, erwiderte sie:

»Was wird die Welt, was werden unsere Schwestern dazu sagen?«

»Madame, wollen Sie einen Skandal vermeiden, dazu gäbe es ein Mittel. Ich verlange nicht, daß Sie mir die Thüren öffnen, doch lassen Sie sie heute, morgen, später schlecht bewachen, und entdecken Sie meine Flucht so spät wie möglich.«

»Unglückliche, was wagen Sie mir vorzuschlagen?«

»Einen Rat, den eine gute und kluge Oberin bei allen denen befolgen sollte, für die das Kloster ein Gefängnis ist, und für mich ist es ein tausendmal schlimmeres als diejenigen, in welche man die Missethäter sperrt; ich muß es also verlassen oder darin umkommen. Madame,« fuhr ich mit feierlichem Tone fort, »hören Sie mich an. Wenn die Gesetze, an die ich mich gewendet habe, meine Erwartungen täuschen sollten und ich, von der Verzweiflung getrieben ... Sie haben einen Brunnen; es giebt Fenster im Hause ... man hat überall Mauern vor sich ... ein Kleid, das man zerreißen kann ...«

»Halten Sie ein, Unglückselige; wie! Sie könnten ...?«[60]

»Ja, ich könnte in Ermangelung von Mitteln, den Leiden des Lebens plötzlich ein Ende zu machen, die Nahrung zurückweisen. Es steht einem frei, zu essen oder zu trinken oder es nicht zu thun ... Wenn ich nun nach dem, was ich Ihnen eben gesagt, den Mut hätte – und Sie wissen, es fehlt mir daran nicht – versetzen Sie sich vor den Richterstuhl Gottes und sagen Sie mir, wer Ihnen schuldiger erscheinen würde, die Nonne oder die Oberin? ... Madame, ich verlange nichts von dem Hause und werde nie etwas von ihm verlangen; ersparen Sie mir eine Missethat, ersparen Sie sich lange Gewissensbisse, einigen wir uns ...«

»Wo denken Sie hin, Schwester Susanne, ich sollte die erste meiner Pflichten verletzen, sollte meine Hände zu einem Verbrechen hergeben und an einer Kirchenschändung teilnehmen?«

»Die wahre Kirchenschändung begehe ich tagtäglich, indem ich die geheiligten Gewänder, die ich trage, durch Verachtung entweihe. Nehmen Sie sie mir, ich bin ihrer unwürdig, lassen Sie mir aus dem Dorfe die Lumpen der ärmsten Bäuerin holen und die Pforte öffnen.«

»Und wohin wollen Sie gehen?«

»Das weiß ich nicht!«

»Sie besitzen doch nichts.«

»Das ist wahr, doch die Armut fürchte ich nicht am meisten.«

»Fürchten Sie die Unsittlichkeit, zu der sie verleitet!«

»Die Vergangenheit bürgt mir für die Zukunft; hätte ich auf das Verbrechen hören wollen, so wäre ich jetzt frei. Doch wenn es mir erlaubt ist, dieses Haus zu verlassen, so wird es entweder mit Ihrer Einwilligung oder auf Grund der Gesetze geschehen, die Wahl steht Ihnen frei!«

Diese Unterredung hatte ziemlich lange gedauert, und die Oberin war noch immer nicht mit ihren Bemerkungen am Ende angelangt: »Was wird die Welt, was werden[61] unsere Schwestern dazu sagen?« als uns die Glocke, die uns zum Gottesdienste rief, trennte. Zum Abschied sagte sie zu mir: »Schwester Sainte-Susanne, Sie gehen zur Kirche, bitten Sie Gott, daß er Sie rühre und Ihnen die Neigung für Ihren Beruf wieder zurückgebe; es ist unmöglich, daß er Ihnen keine Vorwürfe machen sollte; vom Gesange entbinde ich Sie!«

Wir stiegen fast zusammen hinunter; der Gottesdienst ging zu Ende und zum Schlusse desselben, als alle Schwestern im Begriff standen, sich zu trennen, klopfte sie auf ihr Gebetbuch und hielt sie zurück, indem sie sagte:

»Meine Schwestern, ich fordere Sie auf, sich am Fuße des Altars niederzuwerfen und das Mitleid Gottes für eine Nonne anzuflehen, die er verlassen hat, die die Neigung und den Geist der Religion verloren hat und im Begriff steht, sich zu einer in Gottes Augen kirchenschänderischen und in den Augen der Menschen schmachvollen Handlung herbeizulassen.«

Die allgemeine Überraschung zu beschreiben, ist mir unmöglich; im Nu hatte eine Jede das Gesicht ihrer Gefährtin betrachtet und suchte die Schuldige an ihrer Verlegenheit zu entdecken. Alle warfen sich nieder und beteten stillschweigend. Nach Verlauf einer ziemlich beträchtlichen Zeit stimmte die Oberin mit heiserer Stimme das Veni Creator an, dann klopfte sie nach einer zweiten Pause auf ihr Gebetbuch, und man verließ die Kirche.

Meine Bittschrift begann in der Gesellschaft Aufsehen zu erregen, und ich erhielt zahlreiche Besuche; die einen machten mir Vorwürfe, die andern gaben mir gute Ratschläge, die einen billigten mein Vorhaben, die andern tadelten es. Nur wenige Personen blieben mir aufrichtig ergeben, darunter Herr Manouri, der meine Angelegenheit übernommen hatte und dem ich mein ganzes Herz ausschütten konnte. Als ich, von den Qualen, mit denen man mich[62] bedrohte, erschreckt, zurückwich, kam mir wieder jener Kerker in den Sinn, in den man mich bereits einmal geworfen hatte.