Mehrmals wandte ich mich an die Oberin und sagte zu ihr:
»Es ist also wahr?«
Dabei erwartete ich stets, daß sie mir antworten solle:
»Nein, mein Kind, man täuscht Sie!«
Ihre wiederholten Versicherungen überzeugten mich nicht, denn ich konnte nicht begreifen, daß ich mich im Verlaufe eines ganzen, so aufregenden, so bedeutungsvollen Tages an nichts erinnern konnte, nicht einmal an das Gesicht derjenigen, die mir dabei Hilfe geleistet hatten, auch nicht an das des Priesters, der mich ermahnt, noch dessen, der mir das Gelübde abgenommen hatte. Die Vertauschung der religiösen Tracht mit der weltlichen ist das einzige, woran[34] ich mich noch erinnere; von diesem Augenblicke an bin ich vollständig geistesabwesend gewesen.
In demselben Jahre erlitt ich drei bedeutende Verluste; den meines Vaters, oder vielmehr des Mannes, der für meinen Vater galt; – er war alt und hatte viel gearbeitet, – den meiner Oberin und den meiner Mutter. Diese würdige Nonne fühlte schon längere Zeit vorher, daß ihre letzte Stunde nahte; sie verurteilte sich zum Schweigen und ließ ihren Sarg in ihr Zimmer bringen. Sie hatte ihren Schlummer verloren und brachte die Tage und Nächte mit Schreiben und Grübeln zu. Sie hat fünfzehn Betrachtungen hinterlassen, die meiner Ansicht nach höchst bedeutend sind; ich habe eine Abschrift derselben, und sie führen den Titel:
»Die letzten Augenblicke der Schwester de Monc.«
Als sie ihren Tod nahen fühlte, ließ sie sich ankleiden, und man verabreichte ihr die Sterbesakramente, während sie dabei ein Kruzifix in ihrer Hand hielt. Es war Nacht, und der Schein der Kerzen beleuchtete diese düstere Scene. Wir umringten sie, zerflossen in Thränen, und ihre Zelle widerhallte von Geschrei. Plötzlich begannen ihre Augen zu leuchten; sie erhob sich und sprach; ihre Stimme klang fast ebenso stark, als im Zustande der Gesundheit. Die Gabe, die sie verloren, kehrte ihr zurück, und sie warf uns die Thränen vor, die ihr das ewige Glück zu beneiden schienen.
»Meine Kinder«, sprach sie, »Euer Schmerz betrübt mich; dort! dort!« sagte sie, gen Himmel zeigend, »werde ich Euch dienen; meine Augen werden sich unaufhörlich auf dieses Haus senken; ich werde für Euch bitten, und meine Bitte wird Erhörung finden. Tretet alle näher, daß ich Euch umarme; empfanget meinen Segen und mein Lebewohl!«
Während sie diese letzten Worte sprach, schied die heilige Frau, deren wir stets mit nie endendem Bedauern gedenken werden.[35]
Meine Mutter starb bei der Rückkehr von einer kleinen Reise, die sie gegen Ende des Herbstes zu einer ihrer Töchter antrat. Sie hatte tiefen Kummer durchzumachen gehabt, und ihre Gesundheit war bereits stark erschüttert. Ich habe nie den Namen meines Vaters, noch die Geschichte meiner Geburt erfahren. Ihr Beichtvater, der auch der meine war, übergab mir in ihrem Auftrage ein Päckchen; es waren 50 Louisdors mit einem kleinen Billet, alles in ein Stück Leinwand gewickelt und zusammengenäht. Das Billet enthielt folgende Worte:
»Mein Kind, es ist wenig, doch mein Gewissen gestattet mir nicht, über eine größere Summe zu verfügen; es ist der Rest dessen, was ich von den kleinen Geschenken des Herrn Simonin habe sparen können. Lebe fromm, das ist das beste, selbst für dein Glück auf dieser Welt. Bete für mich; deine Geburt ist der einzige bedeutende Fehler, den ich je begangen habe; hilf mir ihn sühnen, damit Gott mir verzeihe, dich in die Welt gesetzt zu haben. Vor allen Dingen betrübe die Familie nicht; und obgleich die Wahl des Standes, in dem du dich jetzt befindest, keine so freiwillige gewesen ist, wie ich es gern gewünscht hätte, so hüte dich doch, ihn zu wechseln. Warum bin ich nicht mein ganzes Leben lang in einem Kloster eingeschlossen gewesen! Der Gedanke würde mich nicht so erschüttern, daß ich in einem Augenblick ein schreckliches Urteil werde über mich ergehen lassen müssen. Gedenke, mein Kind, daß das Schicksal deiner Mutter in einer anderen Welt sehr stark von dem Betragen abhängt, das du in dieser führen wirst. Gott, der alles sieht, wird mir in seiner Gerechtigkeit alles das Gute und Böse anrechnen, was du thust. – Lebe wohl, Susanne, verlange nichts von deinen Schwestern, denn sie sind nicht imstande, dir zu helfen; hoffe auch nichts von deinem Vater, denn er ist mir vorangegangen, er hat den großen Tag bereits gesehen und erwartet mich;[36] meine Anwesenheit wird für ihn weniger schrecklich sein als die seinige für mich. Noch einmal, lebe wohl; deine Schwestern sind angelangt, ich bin nicht mit ihnen zufrieden, sie nehmen und schleppen alles fort und zanken sich unter den Augen ihrer sterbenden Mutter um Geldfragen. Wenn sie sich meinem Bette nähern, so drehe ich mich nach der andern Seite, denn was würde ich an ihnen sehen? zwei Geschöpfe, in denen die Armut das Gefühl der Natur erstickt hat. Sie lechzen nach dem Wenigen, das ich hinterlasse. Sie stellen unpassende Fragen an den Arzt und die Wärterin und erwarten mit Ungeduld den Moment, da ich scheiden werde. Sie vermuten, ich weiß nicht weshalb, ich könnte einiges Geld in meiner Matratze versteckt haben; deshalb haben sie alles mögliche angestellt, daß ich das Bett verlasse, und es ist ihnen auch gelungen, doch glücklicherweise ist mein Anwalt schon am vorigen Tage gekommen und ich hatte ihm dieses kleine Päckchen mit dem Inhalt übergeben, sowie den Brief, den er nach meinem Diktat geschrieben hat. Verbrenne den Brief, und wenn du erfahren wirst, daß ich nicht mehr bin, was bald der Fall sein wird, so lasse eine Messe für mich beten und erneuere dein Gelübde, denn ich wünsche noch immer, daß du Nonne bleibst; der Gedanke, dich in der Welt ohne Stütze, ohne Hilfe verlassen zu wissen, würde meine letzten Augenblicke in der entsetzlichsten Weise verbittern.
Mein Vater starb am 5. Januar, meine Oberin am Ende desselben Monats, und meine Mutter am zweiten Weihnachtsfeiertage.«
Die Schwester Sainte-Christine folgte der Mutter de Monc. Welch ein Unterschied zwischen beiden! Diese hatte einen kleinlichen Charakter, einen beschränkten, mit Aberglauben vollgestopften Kopf und verkehrte viel mit Jesuiten. Sie faßte eine Abneigung gegen alle Lieblinge ihrer Vorgängerin; man mußte sich mit ihr über theologische Fragen[37] aussprechen, von denen wir nichts verstanden, Formeln unterschreiben und uns eigentümlichen Gebräuchen unterwerfen.
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