Jetzt starben vier Personen innerhalb der City, einer in der Wood Street, einer in der Fenchurch Street und zwei in der Crooked Lane. Southwark war gänzlich unberührt, noch nicht einen Toten hatte man auf jener Seite des Flusses.
Ich wohnte außerhalb Aldgate, ungefähr halbwegs zwischen Aldgate Church und Whitechapel Bars, auf der linken oder nördlichen Seite der Straße; und da das Übel diese Hälfte der Stadt noch nicht erreicht hatte, nahmen wir es in unserer Gegend nicht sehr ernst. Um so größer war die Bestürzung am entgegengesetzten Ende der Stadt; und die wohlhabenderen Kreise, besonders der Adel und die vornehmen Leute aus den westlichen Stadtteilen, drängten sich, mit Kind und Kegel aus der Stadt zu kommen, was einen sehr ungewohnten Anblick bot; nirgends konnte man das so gut beobachten wie in Whitechapel, das heißt, auf der Broad Street, wo ich wohnte; da wimmelte es nur so von Wagen und Karren mit Gütern, Frauen, Kindern usw.; Kutschen, voll besetzt mit besseren Herrschaften, und Knechte für die Pferde, und alles auf dem Wege, nur rasch davonzukommen; dann erschienen leere Wagen und Karren und unbepackte Pferde mit Dienern, die, das war offenbar, vom Lande zurückkehrten oder zurückgeschickt worden waren, um andere nachzuholen; daneben unzählige Leute zu Pferde, manche allein, andere mit Dienerschaft, und alle ohne Ausnahme schwer mit Gepäck beladen und für die Reise ausgerüstet, wie jeder, der sie anschaute, deutlich sehen konnte.
Es war wirklich sehr erschreckend und traurig, das zu sehen, und da es ein Schauspiel war, dessen Anblick vom Morgen bis zum Abend ich kaum entgehen konnte, da es tatsächlich nichts anderes von Bedeutung zu sehen gab, machte ich mir die ernstesten Gedanken über die Not, die der Stadt bevorstand, und über die unselige Lage derer, die in ihr zurückbleiben würden.
Das Gedränge der Leute war für einige Wochen so arg, daß man nur unter den äußersten Schwierigkeiten bis zur Tür des Lordbürgermeisters gelangen konnte; der Andrang war dort so groß, weil man um Pässe und Gesundheitsbescheinigungen für Reisen nach auswärts anstand, denn ohne solche war an einen Durchlaß durch die Städte, die an der Straße lagen, oder an eine Übernachtung in einer Herberge nicht zu denken. Derweil die ganze Zeit über in der City niemand gestorben war, ließ unser Lordbürgermeister ohne weiteres allen, die in den siebenundneunzig Stadtsprengeln oder doch innerhalb der Stadtfreiheit wohnten, Gesundheitsbescheinigungen ausstellen.
Das Gedränge, sage ich, hielt einige Wochen an, das heißt, den ganzen Mai und den ganzen Juni, und um so mehr, als das Gerücht umging, daß die Regierung einen Erlaß herausgeben werde, daß Straßensperren errichtet und dadurch die Menschen an der Abreise gehindert werden sollten, und daß die Städte, die am Wege lagen, Leute aus London nicht mehr durchließen, aus Angst, sie würden die Seuche mit sich bringen. Allerdings hatten alle diese Gerüchte ihren Ursprung lediglich in der Phantasie, besonders am Anfang.
Ich begann nun ernsthafte Überlegungen bei mir selbst anzustellen, was meinen eigenen Fall betraf und wie ich mich einrichten sollte; das soll heißen, ob ich mich entscheiden sollte, in London zu bleiben, oder mein Haus abschließen und fliehen, so wie es viele meiner Nachbarn taten. Ich möchte diese Einzelheit in aller Ausführlichkeit behandeln, weil ich annehmen muß, daß es für die, die nach mir kommen, wenn sie in die gleiche schwierige Lage versetzt und vor die gleiche Wahl gestellt werden, vielleicht von Bedeutung sein kann; und deshalb ist es mein Wunsch, daß sie diesen Bericht eher als eine Weisung annehmen, wie sie selbst sich verhalten sollen, denn als eine Geschichte meines Verhaltens; bin ich mir doch bewußt, daß es für sie gewiß nicht die geringste Bedeutung hat zu erfahren, was aus mir geworden ist.
Ich hatte zwei gewichtige Dinge vor Augen: Das eine war die Fortführung meines Geschäfts und meiner Werkstatt, ein beachtlicher Gesichtspunkt, denn hier waren alle meine Besitzungen in dieser Welt investiert; auf der anderen Seite stand mein Leben in einer so düsteren Gefahr, wie ich sie allem Anschein nach über der ganzen Stadt heraufziehen sah, einer Gefahr, die dennoch vielleicht, so groß sie auch sein mochte, von meiner eigenen Furcht oder der Furcht anderer Leute größer dargestellt wurde, als sie in Wirklichkeit war.
Die erste Überlegung war für mich von großer Bedeutung; mein Gewerbe war das eines Sattlers, und da ich meine Geschäfte in der Hauptsache nicht im Einzelhandel führte, sondern sie mit Kaufleuten abschloß, die mit den englischen Kolonien in Amerika Handel trieben, so lag meine Sache ziemlich in der Hand dieser Männer. Zwar war ich unverheiratet, aber ich besaß eine Familie von Dienstboten, die ich für das Geschäft hielt; hatte ein Haus, eine Werkstatt und Lager, die mit Vorräten angefüllt waren; kurz und gut, all das zurückzulassen, wie man es in einem solchen Falle zurücklassen muß, das heißt, ohne einen Aufseher oder eine Person, der man es anvertrauen könnte, das hätte bedeutet, den Verlust nicht nur meines Gewerbes, sondern auch meines Besitztums, in der Tat alles dessen, was ich in der Welt mein eigen nannte, aufs Spiel zu setzen.
Ich hatte zu der Zeit einen Bruder in London leben, der nicht lange zuvor aus Portugal herübergezogen war, und wie ich mich mit ihm beriet, bestand seine Antwort in ganzen vier Worten, denselben, die in einem ganz anderen Falle waren gesprochen worden, nämlich: »Meister, rette dich selbst!«
Kurz gesagt, er war dafür, daß ich mich auf das Land zurückzöge, so wie er es für sich und seine Familie beschlossen hatte; er sagte mir, was er wohl im Ausland gehört hatte, daß die beste Vorbereitung auf die Pest sei, vor ihr davonzulaufen. Was mein Argument anging, ich werde Gewerbe, Besitz und ausstehendes Geld verlieren, so schlug er es mir völlig aus der Hand. Der gleiche Punkt, so sagte er, den ich für mein Verbleiben geltend machte, nämlich daß ich meine Sicherheit und Gesundheit Gott anvertrauen wolle, sei zugleich die stärkste Widerlegung meines Vorgebens, Gewerbe und Besitztum zu verlieren; »denn«, so sprach er, »ist es nicht ebenso vernünftig, Gott mit dem Risiko für dein Geschäft zu belasten, als in einer so drohenden Gefahr zu verbleiben und ihm dein Leben anzuvertrauen?«
Ich konnte nicht einwenden, daß ich in Verlegenheit sei, wo ich hingehen sollte, da ich mehrere Freunde und Verwandte in Northamptonshire hatte, wo unsere Familie ursprünglich herstammte; insbesondere hatte ich eine Schwester in Lincolnshire, die durchaus willens war, mich aufzunehmen und zu versorgen.
Mein Bruder, der seine Frau und seine zwei Kinder schon nach Bedfordshire vorausgeschickt hatte und entschlossen war, ihnen zu folgen, drängte mich in allem Ernst zu gehen; einmal war ich schon so weit, daß ich seinem Wunsch nachkommen wollte, aber da fehlte mir das Pferd; denn obwohl es stimmt, daß nicht alle Leute London verließen, so konnte man doch sagen, alle Pferde taten es; wochenlang war in der ganzen Stadt kein Pferd zu haben, weder zu kaufen, noch zu mieten. Einmal wollte ich mich schon zu Fuß auf den Weg machen, mit einem einzigen Diener; wir hatten vor, nicht in den Herbergen zu übernachten, sondern, wie das viele taten, ein Militärzelt mitzuführen und im Freien zu schlafen, das Wetter war ja so warm, wir hätten uns vor Erkältung nicht zu fürchten brauchen.
Wenn ich sage: wie es viele taten, so meine ich: einige kamen endlich darauf, besonders wer im letzten Kriege, der noch nicht sehr lange zurücklag, im Heer gedient hatte; und ich muß, um auch von Nebenumständen zu sprechen, hinzufügen: hätten mehr Leute, die unterwegs waren, dies getan, dann wäre die Pest nicht in so viele Häuser und Städte auf dem Lande gebracht worden, wie es, zum großen Schaden, ja zum Untergang einer großen Anzahl von Menschen, geschah.
Aber dann hatte mich der Diener, den ich mitnehmen wollte, hintergangen; entsetzt über das Anwachsen der Seuche und im Ungewissen, wann ich abreisen würde, hatte er sich eines anderen besonnen und mich im Stich gelassen, und so saß ich für diesmal fest; und auf diese oder jene Art mußte ich erleben, daß immer irgend etwas dazwischen kam, wenn ich mir einen Reisetermin gesetzt hatte, und ich mußte ihn immer wieder verschieben; und das bringt mich auf einen Gedanken, der mir sonst vielleicht wie eine nutzlose Abschweifung erschienen wäre, ich meine den Gedanken, diese Durchkreuzungen meines Vorhabens könnten vom Himmel stammen.
Ich erwähne dieses auch, weil ich niemandem eine bessere Art des Vorgehens in einem solchen Falle anraten kann – besonders wenn einer sich aus seiner Pflicht ein Gewissen macht und für einen guten Rat empfänglich ist –, als nämlich ein Augenmerk darauf zu haben, welche besonderen Vorsehungen ihm zu der Zeit zustoßen, und diese als ein Ganzes zu betrachten, da sie miteinander in Zusammenhang stehen und alle gemeinsam auf die Frage hinzielen, die zu lösen ist; so verstanden mag er sie dann mit Sicherheit als Eingebungen des Himmels nehmen, die ihm sagen, was zu tun in seinem Falle seine fraglose Pflicht sei; ich meine das für solche Fragen, wie und ob man fortgehen solle oder bleiben, wenn der Ort, an dem man wohnt, von einer ansteckenden Seuche heimgesucht wird.
Es ging mir eines Morgens, als ich darüber nachsann, mit großer Heftigkeit auf, daß, so wie uns nichts ohne die Fügung oder Zulassung der Göttlichen Macht widerfährt, auch diese Durchkreuzungen meiner Pläne etwas Außergewöhnliches an sich haben müßten; und daß ich erwägen sollte, ob sie nicht deutlich darauf hinwiesen oder mir eingäben, es sei der Wille des Himmels, daß ich nicht fortgehen solle. Dem folgte unmittelbar der Gedanke, daß, wenn es wirklich von Gott kam, daß ich bleiben solle, Er auch imstande sei, mich inmitten von allem Tod und aller Gefahr, die mich umgeben würden, sicher zu bewahren; und daß, wenn ich versuchte, durch Flucht von meinem Wohnort mein Leben zu retten, und das entgegen diesen Eingebungen, die ich für göttlichen Ursprungs hielt, es gewissermaßen eine Flucht vor Gott sein würde, und daß mich Sein Gericht ereilen könnte, wann immer oder wo immer Ihm gutdünkte.
Diese Überlegungen kehrten meinen Entschluß wieder völlig um, und als ich meinen Bruder aufs neue traf, sagte ich ihm, daß ich geneigt sei zu bleiben und mein Schicksal auf dem Platz, auf den Gott mich gestellt habe, zu erwarten, und daß ich dies aus den Gründen, die ich eben dargelegt habe, für meine ganz persönliche Pflicht erachte.
Mein Bruder, obschon selbst ein tief religiöser Mann, lachte mich aus, als ich vorbrachte, dies könne eine himmlische Eingebung sein, und er erzählte mir einige Geschichten über solche seiner Ansicht nach dummdreisten Leute, wie ich einer sei; dann nur, meinte er, müßte ich mich dem als einer himmlischen Fügung unterwerfen, wenn ich durch Krankheit oder Leiden verkrüppelt worden wäre; wenn ich dann außerstande wäre zu gehen, wäre es angebracht, mich im Hinblick auf Ihn, der als mein Schöpfer ein unbestreitbares Hoheitsrecht über mich ausübe, mit meinem Geschick abzufinden, und nur in einem solchen Falle hätte man ohne Bedenken sagen können, was der Ruf Seiner Vorsehung sei und was nicht; aber daß ich nur aus dem Grunde, weil ich kein Pferd für die Reise bekommen konnte oder weil mein Begleiter weggelaufen war, von einer Eingebung des Himmels, die Stadt nicht zu verlassen, spreche, das sei einfach lächerlich; ich hätte ja doch gesunde Glieder und andere Diener und es werde mir nichts ausmachen, einen oder zwei Tage zu Fuß zu reisen, und zumal ich eine gültige Gesundheitsbescheinigung besäße, könne ich gut unterwegs ein Pferd mieten oder die Post nehmen, wie immer es mir passe.
Dann ging er dazu über, mir von den unheilvollen Folgen zu erzählen, die die Vermessenheit der Türken und Mohammedaner in Asien und anderswo nach sich zieht; (mein Bruder, der Kaufmann war, hatte bis vor einigen Jahren, wie ich schon bemerkte, im Ausland gelebt und war zuletzt von Lissabon aus zurückgekehrt) wie diese, im sicheren Verlaß auf ihren Vorherbestimmungsglauben und überzeugt, daß jedes Menschen Lebenslauf unumstößlich im Vorhinein festgelegt sei, sorglos verseuchte Orte betreten und mit infizierten Personen Umgang pflegen, durch welches Verhalten sie zu Zehn- oder Fünfzehntausend in der Woche dahinsterben, während die christlichen Kaufleute aus Europa sich vorsichtig zurückhalten und so im allgemeinen der Ansteckung entgehen.
Diese guten Gründe meines Bruders änderten meinen Entschluß wieder, und ich begann nun doch, alles für die Abreise fertig zu machen; denn, um das nur kurz zu erwähnen, die Ansteckung nahm um mich herum zu, die Todesziffern stiegen auf beinahe siebenhundert die Woche, und mein Bruder sagte, er werde es nicht auf sich nehmen, noch länger zu warten. Ich sprach den Wunsch aus, er möge mir noch bis zum nächsten Tag Zeit zum Überlegen geben, dann würde ich mich entscheiden; und da ich alle Vorbereitungen, so gut es ging, schon getroffen hatte, auch was das Geschäft betraf und wem ich es anvertrauen sollte, so hatte ich eigentlich nichts anders zu tun, als diesen Entschluß zu fassen.
Ich kam an diesem Abend in sehr bedrückter Verfassung heim, unentschlossen und nicht wissend, was ich tun sollte.