Giles und St. Martin über 400 Pesttote waren, wie ich schon sagte – in der Pfarre Aldgate nur vier, in der Pfarre Whitechapel nur drei und in der Pfarre Stepney nur einer gestorben waren.
Ähnlich war es in der folgenden Woche, vom 11. zum 18. Juli: Das Totenregister stand auf 1761, und doch starben an der Pest auf der gesamten Southwark-Seite des Flusses nicht mehr als sechzehn Personen.
Aber dieser Stand der Dinge änderte sich bald, und besonders im Cripplegate Sprengel mehrten sich die Fälle, und auch in Clerkenwell; in der zweiten Augustwoche war es bereits soweit, daß Cripplegate allein 886 Tote begrub, und Clerkenwell 155; von den ersten kann man 850 auf die Pest rechnen; von den letzten gab das Register selbst 145 für die Pest an.
Während des Monats Juli und solange unsere Gegend, wie ich schon bemerkte, im Vergleich zu den westlichen Stadtteilen verschont zu werden schien, ging ich gewöhnlich in den Straßen umher, wie es mein Geschäft gerade erforderte; insbesondere begab ich mich für gewöhnlich einmal am Tag, oder jeden zweiten Tag, in die City zu dem Haus meines Bruders, mit dessen Verwaltung er mich betraut hatte, um zu sehen, ob es in Sicherheit war; den Schlüssel trug ich bei mir, und so schaute ich immer hinein und durch alle Räume, ob alles auch beim Rechten war; denn so verwunderlich es klingen mag, daß irgend jemand inmitten eines solchen Unglücks die Rohheit des Herzens besessen haben soll, zu rauben und zu stehlen, so sicher ist es, daß damals alle Arten von Schurkereien in der Stadt begangen wurden, sogar Zügellosigkeiten und Unzucht, und ebenso unverschämt wie je, nur vielleicht nicht ganz so häufig, weil eben die Zahl der Leute in jedem Betracht sehr zurückgegangen war.
Nun jedoch begann auch für die City die Heimsuchung, ich meine für die Stadt innerhalb der Mauern; aber dort war die Zahl der Einwohner ganz besonders stark gesunken, da solche Mengen von ihnen aufs Land gegangen waren; und sogar noch den ganzen Juli hindurch hörten sie nicht auf hinauszuströmen, wenn auch nicht in solchen Mengen wie vordem. Im August indessen nahm die Flucht aus der Stadt solche Formen an, daß ich zu glauben begann, es werde bald wirklich außer Behörden und Dienern niemand mehr in der City übrigbleiben.
Wie sie aus der Innenstadt abrückten, so war auch, und das sollte ich nicht zu erwähnen vergessen, der Hof schon früher, nämlich im Juni, nach Oxford umgezogen, wo es Gott gefiel, sie alle am Leben zu erhalten; die Seuche hat keinen von ihnen auch nur berührt, wofür sie meines Wissens allerdings keinerlei Zeichen von Dankbarkeit an den Tag legten, und kaum irgendeinen Ansatz zur Besserung, obwohl man ihnen deutlich genug zu verstehen gegeben hat, daß ihre himmelschreienden Laster, das kann man ohne die Nächstenliebe zu verletzen sagen, ein gutes Teil dazu beigetragen haben, dieses schreckliche Strafgericht auf die ganze Nation herabzuziehen.
Das Antlitz Londons hatte sich nun in der Tat befremdlich verändert, ich will sagen, die Gesamtheit aller Gebäude, der City, der Stadtfreiheit, der Vororte, Westminsters, Southwarks, alles zusammen genommen zeigte es eine Veränderung; was den besonderen Teil angeht, der die City oder die Innenstadt heißt, so war dort nicht so viel geschehen; aber der Gesamteindruck war anders als vorher. Kummer und Sorge standen in jedem Gesicht geschrieben; auch dort, wo man noch weniger betroffen war, zeigte man sich tief bekümmert; und da wir alles ganz deutlich kommen sahen, mußte jeder sich und seine Familie als in äußerster Gefahr betrachten. Wäre es möglich, denen, die diese Zeit nicht miterlebt haben, alles genau zu schildern und dem Leser einen gehörigen Begriff von dem Entsetzen zu geben, das sich überall kundtat, es würde einen sehr tiefen Eindruck hinterlassen und alle Vorstellungen übertreffen. Man konnte wohl sagen, daß ganz London in Tränen war; die Trauer ließ sich freilich nicht auf der Straße sehen, denn niemand ging in Trauerkleidern oder legte Schwarz an, auch für den nächsten Freund nicht; aber die Stimme der Trauer konnte man fürwahr auf der Straße hören. Aus den Fenstern und Türen der Häuser, wo ihre liebsten Angehörigen wohl im Sterben lagen oder eben gestorben waren, hörten wir, wenn wir durch die Straßen gingen, so häufig die Schreie der Frauen und Kinder, daß es auch dem Allergefühllosesten das Herz durchdringen mußte, es mitanzuhören. Tränen und Wehklagen waren beinahe in jedem Hause daheim, besonders am Anfang der Heimsuchung; denn gegen Ende waren die Herzen der Menschen abgestumpft, und der Tod stand ihnen so allgegenwärtig vor Augen, daß der Verlust ihrer Freunde sie nicht mehr so bekümmerte, rechneten sie doch damit, daß sie selbst in der nächsten Stunde abgerufen würden.
Meine Geschäfte führten mich bisweilen in die andere Hälfte der Stadt hinüber, auch schon als die Krankheit vornehmlich dort herrschte; und da es für mich etwas Neues war, wie ja für alle anderen auch, konnte ich es gar nicht fassen, daß diese Straßen, die für gewöhnlich so belebt waren, nun so ausgestorben dalagen und so wenige Menschen auf ihnen zu sehen waren, daß, wenn ich ein Fremder gewesen wäre und den Weg nicht gewußt hätte, ich manchmal eine ganze Straße bis zum Ende hätte hinuntergehen können – eine Nebenstraße jedenfalls
–, ohne jemanden, den ich hätte fragen können, anzutreffen, die Wachmänner ausgenommen, die man vor die Häuser, welche abgeschlossen waren, postiert hatte, worauf ich gleich werde zu sprechen kommen.
Eines Tages – ich hatte in einer besonderen Angelegenheit wieder geschäftlich in jenem Teil der Stadt zu tun – verführte mich die Neugier, mir alles ein wenig genauer anzuschauen, und tatsächlich wanderte ich lange durch Gegenden, in denen ich eigentlich nichts zu tun hatte. Ich ging nach Holborn hinüber, und dort war die Straße voll von Leuten, aber sie gingen alle in der Mitte der breiten Straße, jedoch weder hüben noch drüben am Rande, weil sie, wie ich vermute, mit niemandem in Berührung kommen wollten, der aus einem der Häuser trat, noch sich den Gerüchen und Dünsten aus den Häusern aussetzen, die ja vielleicht infiziert sein mochten.
Die Anwaltskammern waren alle geschlossen; man hätte ohnehin sowohl in Temple als in Lincoln’s Inn als in Gray’s Inn kaum einen Anwalt finden können. Alle Welt war ja friedlich; für Rechtsanwälte gab es keine Arbeit; außerdem war auch Ferienzeit, und die meisten von ihnen waren aufs Land gefahren. Ganze Straßenzüge lang war Haus für Haus fest abgeschlossen, die Einwohner waren alle geflohen, und nur ein oder zwei Wachmänner waren dageblieben.
Wenn ich sage, ganze Straßenzüge waren abgeschlossen, so meine ich nicht: von Amts wegen geschlossen. Aber eine große Anzahl von Menschen war dem Hof gefolgt, weil ihr Broterwerb oder sonst eine Abhängigkeit es von ihnen verlangte; und als andere dann, aus reiner Angst vor der Seuche, sich davonmachten, kam das für manche Straßen einem Aussterben gleich. Aber in der eigentlichen City war die Angst eigentlich noch lange nicht so groß, und das besonders deswegen, weil trotz der unbeschreiblichen Bestürzung, der man im ersten Moment anheimfiel, die Seuche, wie ich erwähnt habe, zu Anfang ja immer wieder abflaute; so wurden sie sozusagen in Angst versetzt und sogleich wieder beruhigt, und dies mehrere Male, bis sie sich schließlich daran gewöhnten; auch als die Krankheit dann mit voller Heftigkeit ausbrach, sahen die Leute doch, daß sie sich nicht gleich bis in die City ausbreitete, auch nicht in den Osten und Süden der Stadt, und so faßten sie wieder Mut und fingen an, wenn ich so sagen darf, ein wenig abgebrüht zu werden. Zwar flüchteten viele, wie ich berichtet habe, aber sie waren hauptsächlich aus dem Westen der Stadt und aus dem, wie wir es nennen, Herzen der City, das heißt, sie stammten aus den wohlhabendsten Kreisen und hatten meist weder Geschäft noch Gewerbe, das sie festgehalten hätte. Aber von den übrigen blieb die Mehrzahl da und schien sich mit dem Schlimmsten abgefunden zu haben; so daß in dem Viertel, das wir die Stadtfreiheit nennen, und in den Vororten, in Southwark und in solchen östlichen Stadtteilen wie zum Beispiel Wapping, Ratcliff, Stepney, Rotherhithe und anderen die Leute im allgemeinen dablieben, ausgenommen ein paar begüterte Familien hie und da, die, wie oben, von der Ausübung eines Berufes nicht abhängig waren.
Es darf hier nicht vergessen werden, daß City und Vororte zur Zeit dieser Heimsuchung außerordentlich stark bevölkert waren, jedenfalls zu der Zeit, als sie begann; denn obwohl ich später ein noch größeres Anwachsen der Bevölkerung erlebt habe, als der Zuzug nach London mächtiger wurde als je zuvor, so hatten wir doch immer den Eindruck, daß die Zahl der Menschen, die, als der Krieg vorüber, die Armee entlassen, die Monarchie wieder hergestellt war, nach London geströmt kamen, um hier eine Existenz zu gründen oder sich am Hofe um Dienstvergütungen oder Vorzugsstellungen oder dergleichen zu bewerben, so groß war, daß man schätzen konnte, es befänden sich über hunderttausend Menschen mehr in der Stadt als sie vorher beherbergt hatte; ja, einige gingen so weit zu sagen, die Zahl habe sich verdoppelt, weil all die verarmten Familien der Königspartei sich hier eingefunden hätten. All die vielen alten Soldaten, die hier ein Gewerbe anfingen: Das gab eine Unmenge von Familien, die sich neu niederließen.
Der Hof wiederum brachte einen Schwärm des Übermuts und neuer Moden mit sich.