Kommt er heute noch? oder erst morgen? oder übermorgen zum allerspätesten! Graciosus verschwor sich, der Bruder ziehe mit dem Kaiser – nein, er reite ihm weit voraus! Und der Kaiser ist nahe, was flüchteten sonst die Lombarden Hals über Kopf? Bum!« machte sie und ahmte den dumpfen Schlag einer Laue nach, dem bald ein zweiter und noch der dritte folgte, denn im Gebirge, das in Gestalt einer breiten blanken Firn über die Firste blickte, hatte es heute in einem fort gerieselt und geschmolzen.

»Die ihr auf weißen Stürzen in den Abgrund schlittet, seid ihm hold, bärtige Zwerge! Verberget ihm nicht den Pfad, verschüttet ihm nicht die Hufen des Rosses! Sprudle, Flut! Spül aus den Hauch des Todes! Lust und Leben trinke der Bruder!« und sie streckte den schlanken Arm. Dann hob sie den gebadeten Becher in die Höhe der Augen und buchstabierte den Elbenspruch, welchen sie sich deutlicher in das Herz schrieb, als er mit erblindeten Lettern in das Silber gegraben stand. Der Spruch aber lautete folgendermaßen:

 

»Gesegnet seiest du!

Leg ab das Schwert und ruh!

Genieße Heim und Rast

Als Herr und nicht als Gast!

Den Wulfenbecher hier

Dreimal kredenz ich dir!

Erfreue dich am Wein!

Willkomm ...«

 

Hier schloß entweder der zaubertüchtige Spruch oder dann kam noch etwas gänzlich Unleserliches, wenn es nicht zufällige Male der Verwitterung waren.

Eigentlich wußte sie ihn schon lange auswendig. Sie sagte ihn vorwärts, das ging, rückwärts, das ging auch. Dann sah darauf an – zum wievielten Male! – ob er ihr mundgerecht sei und von der Schwester dem Bruder sich sagen lasse, denn Graciosus hatte es erraten: sie liebkoste den Wunsch, mit dem Wulfenbecher dazustehen und ihn Wulfrin zu kredenzen. Ob es die Mutter erlaube? Diese machte sich mit dem Becher nichts zu schaffen, sie ließ ihn wo er langeher seinen Platz hatte. Der Spruch gefiel dem Mädchen und es malte sich die Ankunft.

»Das Horn klingt! Oder wäre es möglich, daß er mich still beschliche? mit heimlichen Schritten? Aber nein, er will ja nichts von mir wissen – wenn Graciosus nicht seinen Scherz mit mir getrieben hat. Das Horn dröhnt! Ich ergreife den Becher, fliege der Mutter voran – oder noch lieber, sie ist verritten und ich bin Herrin im Hause – jetzt naht er! jetzt kommt er!« Ihr Herz pochte. Sie begann zu zittern und zu zagen. »Er ist da! er ist hinter mir!« Sie wendete sich zögernd erst, dann plötzlich gegen das Burgtor. In der niedern Wölbung desselben stand kein Junger Held, aber lauernd drückte sich dort ein armseliger Pickelhering.

Das Mädchen brach in ein enttäuschtes Gelächter aus und trat beherzt der Fratze entgegen. Es war ein Lombarde, das erriet sie aus den ziegelroten Nesteln seiner schmutzig-gelben Strümpfe. In die schreiendsten Farben gekleidet, wie sie Armut und Zufall zusammenwürfeln, trug der Kleine einen langausgedrehten pechschwarzen Spitzbart, der mit den gezackten Brauen und dem verzerrten Gesichte eine possierliche Maske schuf.

»Wer bist du und was willst du?« fragte das Mädchen.

»Nur nicht gerufen, kleine Herrin oder vielmehr große Herrin, denn, bei meiner katholischen Seele! du hast die Mutter dreimal handbreit überwachsen. Wo ist sie?« Er schaute sich ängstlich um. Sein Blick fiel auf etwas Graues. In der Mitte des Hofes und im Schatten der Ahorne stand ein breiter Steinsarg, auf dessen Platte ein gewappneter Mann neben einem Weibe lag, das die Hände über der Brust faltete. »Ei, da hält ja unsere liebe Frau neben ihrem Alten stille Andacht«, spaßte der Lombarde, »und trübt kein Wässerchen, während sie zugleich in ihrer grünen Kraft bergauf bergab reitet und hängen und köpfen läßt.« Er blickte bedenklich zu dem prächtig gebildeten leuchterförmigen Ast eines Ahorns empor. »Hier würde ich ungerne prangen«, sagte er. »In Kürze: ich bin Rachis der Goldschmied und habe ein Geschäftchen mit dir. Liebst du deinen Bruder, junge Herrin?«

Diese plötzliche Frage setzte das Mädchen kaum in Erstaunen, das sich heute und gestern mit nichts anderem als nur mit diesem selben Gegenstande beschäftigt hatte. »Wie mein Leben«, sagte sie.

»Das ist schön von dir, aber wenig fehlt, so liebst du einen Toten. Wulfrin der Höfling ist in unsere Gewalt geraten.«

»Er lebt?« schrie das Mädchen angstvoll.

»Zur Not. Herzog Witigis zielt auf sein Herz – aber wird uns die Richterin nicht überraschen?«

»Nein, nein, sie ist nach Chur verritten. Rede! schnell!«

»Nun, ich habe ein feines Ohr und weiß auch ein Loch in der Mauer, denn ich bin hier nicht unbekannter als der Marder im Hühnerhof. Also: dein Bruder ist in einen Hinterhalt gefallen. Er schlug um sich wie ein Rasender und unser sechse wichen vor ihm, die einen verwundet, die andern um es nicht zu werden. Doch sein Pferd rollte in den Abgrund und er selbst verirrte sich auf eine leere Felsplatte, wo wir ein Treiben auf ihn anstellten und ihm hinterrücks ein langes Jagdnetz über den Kopf warfen. Denn der Herzog wollte ihn lebendig fangen, um ihn über die Wege des Franken unsers Verderbers auszufragen. Der Trotzkopf aber verschwieg alles, auch den eigenen Namen. Da legte der Herzog den Pfeil auf den Bogen und –« Rachis tat einen grausamen Pfiff.

»Du lügst! er lebt!« rief das Mädchen mutig.

»Vorläufig.