Es war zu merken, daß dies manchmal für den Hausherrn einen vergnüglichen Zeitvertreib bildete.
»Gestatten Sie, daß ich Sie bitte, auf diesem Lehnsessel Platz zu nehmen«, sagte Manilow. »Da werden Sie bequem sitzen.«
»Gestatten Sie, ich werde mich auf einen Stuhl setzen.«
»Gestatten Sie, daß ich Ihnen dies nicht gestatte«, sagte Manilow lächelnd. »Dieser Lehnsessel ist nun einmal für den Gast bestimmt; wohl oder übel müssen Sie sich daraufsetzen.«
Tschitschikow setzte sich.
»Gestatten Sie mir, Ihnen ein Pfeifchen anzubieten.«
»Ich danke, ich rauche nicht«, antwortete Tschitschikow freundlich und gewissermaßen bedauernd.
»Warum denn nicht?« fragte Manilow ebenfalls freundlich und im Tone des Bedauerns.
»Ich habe es mir nicht angewöhnt; ich bin gesundheitlich besorgt; man sagt, das Pfeiferauchen mache die Lunge trocken.«
»Gestatten Sie mir die Bemerkung, daß das ein Vorurteil ist. Ich glaube sogar, daß das Pfeiferauchen weit gesünder ist als das Tabakschnupfen. In unserem Regimente war ein Leutnant, ein sehr schöner, gebildeter Mensch; der ließ die Pfeife auch bei Tische nicht aus dem Munde, ja, mit Verlaub zu sagen, nicht einmal an allen übrigen Orten. Und jetzt ist er schon über vierzig Jahre alt, aber Gott sei Dank bis jetzt so gesund, wie man es sich nur denken kann.«
Tschitschikow bemerkte, dergleichen komme in der Tat vor, und es gebe in der Natur viele Dinge, die sogar für den klügsten Verstand unerklärlich seien.
»Aber gestatten Sie mir nun eine Bitte«, fuhr er mit einer Stimme fort, die einen seltsamen oder wenigstens beinah seltsamen Klang hatte, und blickte unmittelbar darauf aus nicht recht verständlichem Grunde hinter sich. Manilow blickte ebenfalls aus nicht recht verständlichem Grunde hinter sich.
»Wie lange ist es her, daß Sie zum letztenmal die Revisionsliste eingereicht haben?«
»Das ist schon recht lange her; aber, um die Wahrheit zu sagen, ich erinnere mich nicht, wann es war.«
»Sind seit jener Zeit viele Bauern bei Ihnen gestorben?«
»Das weiß ich nicht; danach müßten wir, meine ich, den Verwalter fragen. He, Diener! Ruf doch mal den Verwalter; er muß heute hier sein.«
Der Verwalter erschien. Er war ein Mann von etwa vierzig Jahren, glatt rasiert, trug einen Oberrock und führte anscheinend ein sehr ruhiges Leben, da sein Gesicht eine rundliche Fülle zeigte, und seine gelbliche Hautfarbe und seine kleinen Augen bewiesen, daß er recht gut wußte, was Feder- und Daunenbetten sind. Man konnte gleich von vornherein sehen, daß er dieselbe Laufbahn zurückgelegt hatte wie alle herrschaftlichen Verwalter; er war ursprünglich im Hause ein einfacher Schreiberlehrling gewesen, hatte dann irgendeine Agaschka geheiratet, eine Wirtschafterin, die die Gunst der gnädigen Frau genoß, war selbst Wirtschafter geworden und dann zum Verwalter aufgerückt. Nachdem er aber Verwalter geworden war, hatte er sich selbstverständlich benommen wie alle Verwalter: mit den reichsten Leuten im Dorfe hatte er verkehrt und war ihr Gevatter geworden; den Armen aber hatte er immer mehr aufgepackt. Wenn er zwischen acht und neun Uhr morgens aufwachte, wartete er, bis der Samowar fertig war, und trank seinen Tee.
»Hör mal, mein Lieber! Wie viele Bauern mögen bei uns gestorben sein, seit wir zum letztenmal die Revisionsliste eingereicht haben?«
»Ja, wie meinen Sie das: wie viele? Es sind viele seitdem gestorben«, erwiderte der Verwalter; da er den Schlucken bekommen hatte, so hielt er sich so obenhin die Hand wie einen Schild vor den Mund.
»Ja, ich muß gestehen, das hatte ich selbst gedacht«, fiel Manilow ein. »Es sind wirklich sehr viele gestorben!« Er wendete sich dabei an Tschitschikow und fügte noch hinzu: »Wirklich, sehr viele.«
»Aber wie hoch mag sich die Zahl derselben ungefähr belaufen?« fragte Tschitschikow.
»Ja, wie hoch ungefähr?« wiederholte Manilow.
»Ja, wie soll ich da eine Zahl angeben? Es ist ja nicht bekannt, wie viele gestorben sind: es hat sie niemand gezählt.«
»Ja freilich«, sagte Manilow, sich zu Tschitschikow wendend, »ich habe mir auch gedacht, daß die Sterblichkeit groß gewesen ist; es ist gar nicht bekannt, wie viele gestorben sind.«
»Bitte, zähle sie doch zusammen«, sagte Tschitschikow zu dem Verwalter, »und stelle ein genaues Namensverzeichnis von allen auf!«
»Ja, ein Namensverzeichnis von allen«, fügte Manilow hinzu.
Der Verwalter erwiderte: »Zu Befehl!« und ging hinaus.
»Aber wozu wollen Sie denn das wissen?« fragte Manilow, sobald der Verwalter gegangen war.
Diese Frage schien den Gast in Verlegenheit zu setzen; auf seinem Gesichte prägte sich eine gewisse Anstrengung aus, von der er sogar rot wurde, die Anstrengung, etwas auszudrücken, wofür er nicht sogleich die passenden Worte finden konnte. Und in der Tat bekam Manilow schließlich ganz seltsame und ungewöhnliche Dinge zu hören, wie Menschenohren sie noch niemals gehört hatten.
»Sie fragen, wozu ich das wissen möchte? Der Grund ist der: ich möchte Bauern kaufen …«, erwiderte Tschitschikow, stockte aber und sprach den Satz nicht zu Ende.
»Aber gestatten Sir mir die Frage«, sagte Manilow. »Wie wollen Sie Bauern kaufen: mit Land, oder einfach zur Übersiedelung, also ohne Land?«
»Nein, ich möchte eigentlich nicht richtige Bauern kaufen«, erwiderte Tschitschikow, »ich möchte tote Bauern haben …«
»Wie? Verzeihen Sie … ich bin da auf dem Ohr etwas schwerhörig; ich glaubte, ein sehr sonderbares Wort zu hören …«
»Ich beabsichtige, tote Bauern zu erwerben, die aber in der Revisionsliste noch als lebend aufgeführt sind«, versetzte Tschitschikow.
Hier riß Manilow verwundert den Mund auf, so daß die Pfeife auf den Boden fiel, und verharrte so mit offenem Munde mehrere Minuten lang. Keiner der beiden Freunde rührte sich; sie dachten wohl über die Annehmlichkeiten des freundschaftlichen Lebens nach und starrten einander an wie jene Porträts, die man in älterer Zeit einander gegenüber zu beiden Seiten des Spiegels aufzuhängen pflegte. Endlich hob Manilow die Pfeife auf, blickte dem anderen von unten her ins Gesicht und versuchte zu erkennen, ob nicht ein Lächeln um seine Lippen spiele und er nur einen Scherz gemacht habe; aber es war nichts Derartiges sichtbar, im Gegenteil erschien sein Gesicht sogar ungewöhnlich ernst. Dann kam ihm der Gedanke, ob der Gast auch nicht etwa unversehens den Verstand verloren habe, und er sah ihn voller Angst unverwandt an; aber die Augen des Gastes waren ganz klar; es war in ihnen nichts von jenem wilden, unruhigen Feuer zu bemerken, das in den Augen eines Irrsinnigen zu flackern pflegt; alles an ihm war, wie es sich gehört und in guter Ordnung. Mochte Manilow auch noch soviel darüber nachdenken, wie er sich nun verhalten und was er tun solle, er konnte nichts anderes ersinnen als nur aus dem Munde den darin befindlichen Rauch in einem ganz dünnen Strahle ausströmen zu lassen.
»Ich möchte also gern wissen, ob Sie geneigt sind, mir solche nicht in Wirklichkeit, wohl aber in bezug auf die gesetzliche Form lebendigen Bauern zu überlassen, abzutreten, oder wie es Ihnen sonst am besten scheint.«
Aber Manilow war so betäubt und verwirrt, daß er ihn nur anblickte.
»Es scheint, daß Sie das befremdet?« fragte Tschitschikow.
»Nein … nein, das nicht«, erwiderte Manilow, »ich kann nur nicht begreifen … verzeihen Sie … ich habe allerdings keine so glänzende Bildung genossen, wie sie bei Ihnen sozusagen in jedem Worte sichtbar ist; ich verstehe mich nicht auf die hohe Kunst des geschickten Ausdrucks … Vielleicht daß hier … in diesem Wunsche, den Sie soeben aussprachen … etwas anderes verborgen liegt … Vielleicht haben Sie nur um des schönen Stils willen sich so auszudrücken beliebt?«
»Nicht doch«, erwiderte Tschitschikow, »nicht doch; ich meine genau das Kaufobjekt, das ich bezeichnet habe, also solche Seelen, die wirklich bereits gestorben sind.«
Manilow hatte vollständig die Fassung verloren; er fühlte, daß er etwas tun, eine Frage stellen mußte, aber was für eine Frage, das mochte der Teufel wissen. Es endete schließlich damit, daß er wieder den Rauch ausströmen ließ, diesmal aber nicht aus dem Munde, sondern durch die Nasenlöcher.
»Also, wenn dem nichts entgegensteht, so könnten wir in Gottes Namen zur Ausfertigung des Kaufkontraktes schreiten«, sagte Tschitschikow.
»Wie? Eines Kaufkontraktes über tote Seelen?«
»O nein!« versetzte Tschitschikow. »Wir wollen schreiben, daß sie leben, so wie es tatsächlich in der Revisionsliste steht. Es ist mein Grundsatz, in keinem Punkte von den bürgerlichen Gesetzen abzuweichen, wiewohl ich dafür während meiner Dienstzeit viel zu dulden gehabt habe; aber verzeihen Sie: die Pflicht ist für mich etwas Heiliges, und das Gesetz – vor dem Gesetze verstumme ich.«
Die letzten Worte gefielen Manilow; aber aus dem Geschäfte selbst konnte er trotzdem noch nicht klug werden, und statt zu antworten begann er so stark an seiner Pfeife zu ziehen, daß diese schließlich wie ein Fagott zu schnarchen anfing. Es schien, als wollte er aus ihr eine Meinung über eine so unerhörte Sache herausziehen; aber die Pfeife schnarchte nur, weiter nichts.
»Vielleicht haben Sie irgendwelche Bedenken?«
»Oh, ich bitte Sie, durchaus nicht! Es kommt mir nicht in den Sinn, Ihren Vorschlag irgendwie zu kritisieren oder zu tadeln. Aber gestatten Sie mir die Bemerkung: wird dieses Unternehmen oder, um mich sozusagen besser auszudrücken, diese Transaktion … wird diese Transaktion auch nicht den staatlichen Bestimmungen und den weiteren Zielen Rußlands zuwiderlaufen?«
Hier machte Manilow eine gewisse Bewegung mit dem Kopfe, sah seinem Gaste sehr bedeutsam ins Gesicht und zeigte in allen seinen Gesichtszügen, namentlich auch in den zusammengepreßten Lippen einen so tiefsinnigen Ausdruck, wie er vielleicht noch nie auf einem Menschengesichte zu sehen gewesen war, ausgenommen etwa nur bei einem besonders klugen Minister, und zwar im Augenblick des Nachdenkens über eine äußerst diffizile Angelegenheit.
Aber Tschitschikow erwiderte einfach, ein solches Unternehmen oder eine solche Transaktion werde in keiner Weise den staatlichen Bestimmungen und den weiteren Zielen Rußlands zuwiderlaufen, und fügte einen Augenblick darauf noch hinzu, daß der Fiskus dabei sogar Vorteil habe, da er die gesetzlichen Gebühren erhalte.
»Also Sie meinen? …«
»Ich meine, daß die Sache korrekt sein wird.«
»Nun, wenn sie korrekt ist, dann ist es etwas anderes; dann habe ich nichts dagegen«, sagte Manilow und fühlte sich nun völlig beruhigt.
»Jetzt bleibt noch übrig, daß wir uns über den Preis einigen …«
»Wieso über den Preis?« fragte Manilow wieder befremdet. »Meinen Sie wirklich, daß ich Geld für Seelen nehmen werden, die gewissermaßen ihr Dasein beendet haben? Wenn nun einmal ein solcher sozusagen phantastischer Wunsch bei Ihnen rege geworden ist, so werde ich meinerseits sie Ihnen unentgeltlich geben und auch die Gebühren für den Kaufvertrag auf mich nehmen.«
Der Erzähler der vorliegenden Begebenheiten würde den größten Vorwurf verdienen, wenn er es unterließe zu sagen, daß nach diesen von Manilow gesprochenen Worten die Freude den Gast geradezu überwältigte. Wie gesetzt und vernünftig er auch sonst war, so machte er in diesem Augenblicke doch beinahe einen Bocksprung, was man bekanntlich nur beim stärksten Freudenausbruche tut. Er drehte sich so heftig auf dem Lehnsessel hin und her, daß der Wollstoff, mit dem der Sitz bezogen war, einen Riß bekam; selbst Manilow sah ihn ganz erstaunt an. Von Erkenntlichkeit durchdrungen, überschüttete Tschitschikow seinen Wirt mit so vielen Äußerungen der Dankbarkeit, daß dieser verlegen wurde, errötete, ablehnend den Kopf schüttelte und schließlich sich dahin äußerte, dies sei ja ein reines Nichts; er würde ihm wirklich gern durch irgendetwas seine herzliche Zuneigung, seinen Seelenmagnetismus beweisen; aber tote Seelen seien gewissermaßen eine reine Lappalie.
»Durchaus keine Lappalie«, versetzte Tschitschikow und drückte ihm die Hand.
Hier stieß er einen sehr tiefen Seufzer aus. Er schien in der richtigen Stimmung für Herzensergüsse zu sein; nicht ohne tiefe, warme Empfindung sprach er schließlich die folgenden Worte: »Wenn Sie wüßten, welchen Dienst Sie mit dieser scheinbaren Lappalie einem Menschen von geringer Herkunft erwiesen haben! Und in der Tat, was habe ich nicht alles zu dulden gehabt? Wie ein Kahn mitten in den wütenden Wogen … Was für Verfolgungen, was für Bedrückungen habe ich nicht durchgemacht, wieviel Leid habe ich nicht gekostet! Und wofür? Weil ich die Wahrheit hochhielt, weil ich mir ein reines Gewissen bewahrte, weil ich der hilflosen Witwe, der bekümmerten Waise die rettende Hand reichte! …« Hier wischte er sich sogar mit dem Taschentuche eine herunterrollende Träne weg.
Manilow war ganz gerührt. Die beiden Freunde drückten einander lange die Hand und sahen einander lange schweigend in die Augen, in denen hervorquellende Tränen sichtbar waren.
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