über die Lieferanten der Wäsche, der Betten und Speisen, werden mir Frauenzimmer am liebsten erlassen; aber sie werden begieriger sein, wie der Genius erzog. Recht gut, sag' ich, er befahl nicht, sondern gewöhnte und erzählte bloß. Er widersprach weder sich noch dem Kinde, ja er hatte das größte Arkanum, ihn gut zu machen – er wars selbst. Ohne dieses Arkanum könnte man ebensogut den Teufel zum Informator dingen als sich selber, wie die Töchter schlimmer Mütter zeigen. Der Genius glaubte übrigens, beim ersten Sakramente (der Taufe) gehe die Bildung des Herzens an, beim zweiten (Abendmahl) die des Kopfes.
Von guten Menschen hören ist so viel als unter ihnen leben, und Plutarchs Biographien wirken tiefer als die besten Lehrbücher der Moralphilosophie zum Gebrauche – akademischer Lehrer. Für Kinder vollends gibts keine andere Sittenlehre als Beispiel, erzähltes oder sichtbares; und es ist erzieherische Narrheit, daß man durch Gründe Kindern nicht diese Gründe, sondern den Willen und die Kraft zu geben meinet, diesen Gründen zu folgen. O tausendmal glücklicher als ich neben meinem Tertius und Konrektor lagst du, Gustav, auf dem Schoße, in den Armen und unter den Lippen deines teuern Genius, wie eine trinkende Alpenblume an der rinnenden Wolke, und sogest dein Herz an den Erzählungen von guten Menschen groß, die der Genius sämtlich Gustave und Selige nennte, von denen wir bald sehen sollen, warum sie mit Schwabacher gedruckt sind! Da er gut zeichnete, so gab er ihm, wie Chodowiecki dem Romanenmacher, die Zeichnung jeder Geschichte und umbauete den Kleinen mit diesem orbis pictus guter Menschen wie der allmächtige Genius uns mit der großen Natur. Aber er gab ihm die Zeichnung nie vor, sondern nach der Beschreibung, weil Kinder das Hören zum Sehen stärker zieht als das Sehen zum Hören. Ein anderer hätte zu diesem pädagogischen Hebebaum statt der Reißfeder den Fiedelbogen oder die Klaviertaste genommen; aber der Genius tat es nicht; das Gefühl für Malerei entwickelt sich wie der Geschmack sehr spät und bedarf also der Nachhülfe der Erziehung. Es ist der frühesten Entwicklung wert, weil es das Gitter wegnimmt, das uns von der schönen Natur absondert, weil es die phantasierende Seele wieder unter die äußern Dinge hinaustreibt und weil es das deutsche Auge zur schweren Kunst abrichtet, schöne Formen zu fassen. Die Musik hingegen trifft schon im jüngsten Herzen (wie bei den wildesten Völkern) nachtönende Saiten an; ja ihre Allmacht büßet vielmehr durch Übung und Jahre ein. Gustav lernte daher als Taubstummer in seiner taubstummen Höhle so gut zeichnen, daß ihm schon in seinem dreizehnten Jahre sein Hofmeister saß, ein schöner Mann, der weiter unten im Buche auftreten muß.
Und so floß beiden ihr Leben sanft in der Katakombe wie eine Quelle davon. Der Kleine war glücklich; denn seine Wünsche langten nicht über seine Kenntnisse hinaus, und weder Zank noch Furcht rissen seine stille Seele auseinander. Der Genius war glücklich; denn die Ausführung dieses zehnjährigen Baues wurd' ihm leichter als der Entschluß desselben; der Entschluß drängt alle Schwierigkeiten und Entbehrungen auf einmal vor die Seele. Die Ausführung aber stellet sie weit auseinander und gibt uns erst das Interesse daran durch die sonderbare Freude, ohne die man bei tausend Dingen nicht ausdauerte – etwas unter seinen Händen täglich wachsen sehen.
Für beide Menschen war es gut, daß unten in diesem moralischen Treibhaus ein Schulkamerad des Gustavs mit wohnte, der zugleich ein halber Kollaborator und Adjunktus des Genius war, indes von der ganzen Erziehung wegen gewisser Mängel seines Herzens nur schlechten Vorteil zog, ob er gleich so gut wie Gustav zu den Tieren mit zwei Herzkammern und mit warmen Blute gehörte. – Wenn ich sage, daß der größte Fehler des Mitarbeiters war, daß er keinen Branntwein trinken wollte, so sieht man wohl, daß er klein, wie Gustav groß gezogen werden sollte, weil er der netteste schwärzeste – Pudel war, der jemals über der Erde mit einer weißen Brust herumgesprungen war. Dieser verständige Hund und Unterlehrer lösete den Oberlehrer oft im Spielen ab; zweitens konnten die meisten Tugenden nicht sowohl von als an ihm durch Gustav ausgeübt werden, und er hielt dazu die nötigen ungleichnamigen Laster bereit: – im Schlaf biß der Schulkollege leicht um sich nach lebendigen Beinen, im Wachen nach abgezauseten.
In diesem unterirdischen Amerika hatten die drei Antipoden ihren Tag, d.h. es war ein Licht angezündet, wenn es oben bei uns Nacht war – Nacht, d.h. Schlaf hatten sie, wenn bei uns die Sonne schien. Der schöne Genius hatte des äußern Lärms und seiner Tagausflüge wegen es so eingerichtet. Der Kleine lag dann unten in seiner Kartause, während sein Lehrer Luft und Menschen genoß, mit zugeschnürten Augen, weil dem Zufall und der Kellertür nicht zu trauen war. Zuweilen trug er den schlafenden verhüllten Engel in die frische Luft und in die beseelenden Sonnenstrahlen hinauf, wie Ameisen ihre Puppen den Brutflügeln der Sonne unterlegen. Wahrlich wär' ich der zweite oder dritte Chodowiecki: so ständ' ich jetzo auf und stäche zu meinem eignen Buche den Auftritt in schwedisches Kupfer, nicht bloß wie unser herausgetragner blaßroter Liebling unter seiner Binde in einem gegitterten Rosenschatten schlummert und, ähnlich einem gestorbenen Engel, im unendlichen Tempel der Natur still mit kleinen Träumen seiner kleinen Höhle vor uns liegt – Es gibt noch etwas Schöners, du hast deine Eltern noch, Gustav, und siehst sie nicht; deinen Vater, der mit dem von der Liebe verdunkelten Auge neben dir steht und sich freuet über den reinern Atem, der die kleine Brust beweget, und darüber vergisset, wie du erzogen wirst – und deine Mutter, die an dein Angesicht, auf welchem die zweifache Unschuld der Einsamkeit und der Kindheit wohnt, die liebehungrigen Lippen presset, die ungesättigt bleiben, weil sie nicht reden und nicht schmeicheln dürfen ... Aber sie drückt dich aus deinem Schlummer heraus, und du mußt nach einer kurzen Zeit wieder in deine Platos-Höhle hinunter.
Der Genius bereitete ihn lange auf die Auferstehung aus seinem heiligen Grabe vor. Er sagte zu ihm: »Wenn du recht gut bist und nicht ungeduldig und mich und den Pudel recht lieb hast: so darfst du sterben. Wenn du gestorben bist: so sterb' ich auch mit, und wir kommen in den Himmel« (womit er die Oberfläche der Erde meinte) – »da ists recht hübsch und prächtig. Da brennt man am Tage kein Licht an, sondern eines so groß wie mein Kopf steht in der Luft über dir und geht alle Tage schön um dich herum – die Stubendecke ist blau und so hoch, daß sie kein Mensch erlangen kann auf tausend Leitern – und der Fußboden ist weich und grün und noch schöner, die Pudel sind da so groß wie unsere Stube – im Himmel ist alles voll Seliger, und da sind alle die guten Leute, von denen ich dir so oft erzählet habe, und deine Eltern,« (deren Abbilder er ihm lange gegeben hatte) »die dich so lieb haben wie ich und dir alles geben wollen. Aber recht gut mußt du sein.« – »Ach wenn sterben wir denn einmal?« fragte der Kleine, und seine glühende Phantasie arbeitete in ihm, und er lief unter jeder solchen Schilderung zu einem Landschaftgemälde, worin er jede Grasspitze betastete und befragte.
Auf Kinder wirkt nichts so schwach als eine Drohung und Hoffnung, die nicht noch vor abends in Erfüllung geht – bloß solange man ihnen vom künftigen Examen oder von ihrem erwachsenen Alter vorredet, so lange hilfts; daher manche dieses Vorreden so oft wiederholen, daß es nicht einmal einen augenblicklichen Eindruck mehr erzeugt. Der Genius setzte daher den langen Weg zur größten Belohnung aus kleinern zusammen, die alle den Eindruck und die Gewißheit der großen verstärkten und die im folgenden Sektor stehen.
Apropos! Ich muß es nachholen, daß es unter allen Übeln für Erziehung und für Kinder, wogegen das verschriene Buchstabieren und Wichsen golden ist, kein giftigeres, keinen ungesundern Mißpickel und keinen mehr zehrenden pädagogischen Bandwurm gibt als eine – Hausfranzösin.
Vierter Sektor oder Ausschnitt
Lilien – Waldhörner – und eine Aussicht sind die Todes-Anzeigen
Auf allen meinen Gedächtnisfibern (diesen Denkfäden und Blättergerippen von so manchem schlechten Zeug) schläft keine schönere Sage als die aus dem Kloster Corbey: – wenn der Todesengel daraus einen Geistlichen abzuholen hatte: so legte er ihm als Zeichen seiner Ankunft eine weiße Lilie in seinem Chorstuhl hin. Ich wollt', ich hätte diesen Aberglauben.
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