Endlich begann er: »Deine Stube bleibt für dich unverändert, und wenn du zu uns zurückkehrst, sollst du Alles so finden, wie du es verlassen. Dem Gute bist du nicht zu ersetzen, nicht den Geschwistern, auch nicht deinem Vater. Ich gebe dich hin mit Schmerzen in ein Leben, das uns beiden unbekannt ist. Gute Nacht, mein braves Kind, des Himmels Segen über dich. Gott behüte dir dein ehrliches Herz. Sei tapfer, Ilse, das Leben ist schwer.« Er zog sie an sich und sie weinte still an seinem Herzen.
Die Morgensonne des nächsten Tages schien durch die Fenster der alten Holzkirche auf die Stätte vor dem Altar. Wieder umsäumte sie Ilse's Haupt wie mit überirdischem Glanz und verklärte das glückliche Antlitz des Mannes, in dessen Hand der alte Pfarrer die Hand seines Lieblings legte. Die Kinder des Hauses und die Arbeiterinnen des Gutes streuten Blumen. Ueber den letzten Schmuck des Gartens schritt Ilse mit Kranz und Schleier, das Auge zur Höhe gerichtet. Aus den Armen des Vaters und der Geschwister, unter den lauten Segenswünschen der Frau Oberamtmann und dem leisen Gebet des alten Pfarrers hob der Gatte sie in den Wagen. Noch ein Hoch der Gutsleute, noch ein Blick nach dem Vaterhause, und Ilse faßte die Hand des Gatten und hielt sich an ihm fest.
Zweites Buch
1.
Die ersten Grüsse der Stadt.
Im Stadtwald fiel das Laub vor die Füße der Spaziergänger. Ilse stand am Fenster und dachte an die Heimat. Die Kränze über der Thür waren verwelkt, Linnen und Kleider lagen eingestaut in den Schränken, das eigene Leben rann so still, und draußen das fremde rauschte so überlaut. Im Nebenzimmer saß der Gatte über seiner Arbeit; nur das Knittern der Blätter, welche er umschlug, drang durch die Thür und dazwischen aus der nahen Küche ein Klappern der Teller. Sehr schön war die Wohnung, aber enge eingehegt, zur Seite die schmale Straße; dahinter das Nachbarhaus mit vielen neugierigen Fenstern; auch nach dem Walde der Horizont verbaut durch graue Stämme und ragende Aeste. Und aus der Ferne tönte vom Morgen bis zum Abend das Summen, Rasseln und Rufen der thätigen Stadt in das Ohr, von der Höhe die Klänge eines Flügels, vom Bürgersteig ohne Aufhören die Tritte der Vorübergehenden, Wagen rollten heran, laute Stimmen zankten. Und wie lange man aus dem Fenster schaute, immer neue Menschen und unbekannte Gesichter, viele schöne Herrschaften und wieder sehr ärmliche Leute. Ilse dachte bei jedem Vorübergehenden, der einen modischen Rock trug, wie vornehm er sein müsse, und bei jedem dürftigen Anzug, wie hart den Armen hier das Leben drücke. Alle aber waren ihr fremd, die sie reden hörte, auch die nahe bei ihr wohnten und von allen Ecken auf ihr eigenes Treiben sehen konnten, hatten wenig mit ihr zu schaffen, und wenn sie nach Einzelnen frug, wußten ihre Hausgenossen nur spärliche Nachricht zu geben. Alles fremd und kalt und in endlosem Getümmel! Ilse stand in ihrer Wohnung wie auf einem winzigen Eiland in sturmbewegtem Meere und ihr wurde bange vor dem fremden Leben.
Aber die Stadt, wie riesenhaft und toblustig sie sich gegen Ilse geberdete, war im Grunde ein freundliches Ungethüm, ja sie hegte vielleicht vor andern eine stille Neigung zu poetischen Gefühlen und zu heimlicher Artigkeit. Zwar hatte ein gestrenger Stadtrath den Brauch aufgegeben, ansehnlichen Fremden den Willkommen mit Wein und Fischen zu überreichen, aber er sandte doch den ersten Morgengruß durch seine geflügelten Schützlinge, über welche sich schon Ilse's Vater gefreut hatte. Die Tauben flogen um Ilse's Fenster, saßen gedrängt vor den Scheiben und pickten an das Holz, bis Ilse ihnen Futter hinausstreute. Und Gabriel, der das Frühstück abräumte, konnte nicht umhin, sich selbst zu loben: »Ich habe sie seit einigen Wochen an diesem Fenster gefüttert, weil ich mir dachte, daß sie Ihnen recht sein würden.« Und als Ilse ihn dankbar ansah, gestand er offenherzig: »Denn ich bin auch vom Dorfe, und weil ich zuerst in die Kaserne kam, habe ich auch mein erstes Commisbrot mit einem fremden Pudel aufgegessen.«
Aber die Stadt sorgte noch durch andere Vögel dafür, daß die Frau vom Lande heimisch wurde. Gleich am ersten Tage, wo Ilse allein ausging – es war ein schwerer Gang, denn sie konnte sich mit Mühe enthalten, vor den Schaufenstern stehen zu bleiben, und sie erröthete, sooft die Leute dreist in ihr Gesicht sahen –, gleich damals hatte sie vor einer Conditorei arme Kinder getroffen, welche begehrlich durch die Fensterscheiben auf das Backwerk starrten; die sehnsuchtsvollen Blicke hatten sie gerührt, sie war hineingetreten und hatte Kuchen unter sie vertheilt. Seitdem machte sich's, daß jeden Mittag leise an Ilse's Klingel gezogen wurde und kleine Jungen mit zerrissenen Höschen leere Töpfe darboten und gefüllte heimtrugen, zum Aerger des Herrn Hummel, der ein solches Anlocken von Spitzbuben nicht loben konnte.
Als Ilse am Abend ihrer Ankunft von dem Gatten in ihr Zimmer geführt wurde, fand sie über den Tisch eine schöne Decke gebreitet, ein Meisterstück sorgfältiger Frauenarbeit, daran einen Zettel mit dem Wort: »Willkommen«. Gabriel bekannte, daß Fräulein Laura dies Geschenk aufgelegt habe. Deshalb wurde am nächsten Morgen der erste Besuch im Unterstock gemacht. Als Ilse in das Wohnzimmer der Familie Hummel trat, sprang Laura erröthend auf und stand verlegen der Frau Professorin gegenüber; ihre ganze Seele flog der Fremden entgegen, aber Ilse's Wesen flößte ihr Scheu ein. Ach, die Ersehnte war allerdings erhaben und würdevoll, weit mehr als Laura gedacht hatte, Laura kam sich auf der Stelle sehr klein und unreif vor, sie empfing schüchtern den Dank und zog sich einige Schritte zurück, der Mutter die Pflicht der Worte überlassend. Aber sie wurde nicht müde, die schöne Frau anzusehen und ihre Gestalt in Gedanken mit dem edelsten Costüm der tragischen Bühne zu schmücken.
Laura erklärte der Mutter, daß sie den Gegenbesuch allein machen wolle, und schlüpfte am nächsten schicklichen Tage in der Dämmerung hinauf, mit pochendem Herzen, aber entschlossen, eine gute Unterhaltung zu suchen.
1 comment