Die Briefe sind in einem derartigen Ton gehalten, daß sie vom Außenminister Seiner Majestät nicht ignoriert werden können. Er setzt hiermit eine Belohnung von fünfzig Pfund aus, die an jede Person, bzw. alle Personen ausgezahlt wird (ausgenommen ist natürlich der Briefschreiber), die Informationen liefern, die zur Festnahme und Verurteilung des Verfassers dieser anonymen Briefe führen.
Diese Bekanntmachung war in Anbetracht dessen, daß in der Post eines jeden Staatsmannes und Diplomaten normalerweise täglich anonyme und Drohbriefe gefunden werden, so ungewöhnlich, daß der ›Daily Megaphone‹ augenblicklich Erkundigungen einzog, um die Ursache für dieses seltene Vorgehen zu ergründen.
Ein Repräsentant unserer Zeitung sprach in der Residenz Sir Philip Ramons vor, der ihn sehr liebenswürdig empfing.
»Es ist ein ziemlich ungewöhnlicher Schritt«, sagte der Außenminister als Antwort auf die Frage unseres Reporters, »doch er ist in vollem Einvernehmen mit den Kollegen meines Kabinetts erfolgt. Wir haben Grund zu der Annahme, daß es keine leeren Drohungen sind, und ich darf Ihnen noch sagen, daß die Angelegenheit bereits seit einigen Wochen in den Händen der Polizei ruht. Hier ist einer der Briefe.«
Sir Philip holte aus einer Aktenmappe ein Blatt ausländischen Briefpapiers und war so liebenswürdig, unserem Reporter zu erlauben, eine Kopie davon zu machen. Der Brief war undatiert, in gutem Englisch geschrieben, und die Handschrift hatte verschnörkelte, unmännliche Züge, die für die romanische Rasse charakteristisch sind.
Der Brief lautet:
»Eure Exzellenz -
Der Gesetzentwurf, den Sie zu verabschieden gedenken, ist ungerecht. Er zielt darauf ab, einer korrupten und rachsüchtigen Regierung Männer auszuliefern, die jetzt in England ein
Asyl vor den Verfolgungen der Despoten und Tyrannen gefunden haben. Wir wissen, daß die Meinungen über die Vorzüge Ihres Gesetzentwurfes in England geteilt sind und es nur von Ihnen, und zwar ganz allein von Ihnen abhängt, ob das Gesetz zur Auslieferung politisch verfolgter Ausländer in Kraft tritt.
Aus diesem Grunde müssen wir Sie betrüblicherweise warnen und darauf hinweisen, daß es für uns notwendig wird, Sie zu beseitigen, wenn Ihre Regierung diesen Gesetzentwurf nicht zurückzieht - und zwar nicht nur Sie allein, sondern auch jeden anderen, der sich anschickt, diese ungerechte Maßnahme zu einem Gesetz zu erheben.
Die vier Gerechten«.
»Der Gesetzentwurf, auf den hier angespielt wird«, nahm Sir Philip das Gespräch wieder auf, »ist die Vorlage für das Gesetz zur Auslieferung ausländischer politischer Straftäter, das ohne die Taktiken der Opposition schon bereits in der letzten Sitzungsperiode verabschiedet worden wäre.«
Sir Philip fuhr fort, zu erklären, daß der Gesetzentwurf aufgrund der unsicheren Erbfolge in Spanien ins Leben gerufen worden war.
»Weder England noch irgendein anderes Land sollte Propagandisten Zuflucht gewähren, die von diesem oder irgendeinem anderen sicheren Hafen aus Europa in Flammen setzen würden. So wurden gleichzeitig mit diesem Gesetzentwurf in jedem Land Europas ähnliche Gesetze oder Proklamationen verfaßt. Tatsächlich bestehen sie alle bereits. Sie sollten in der letzten Sitzungsperiode simultan mit unserem Gesetz werden.«
»Weshalb messen Sie diesen Briefen so viel Bedeutung bei?« fragte der Reporter des Daily Megaphone‹.
»Weil uns sowohl von unserer eigenen Polizei als auch der des europäischen Festlandes versichert wurde, daß die Briefschreiber Männer sind, denen es tödlich ernst ist. ›Die vier Gerechten‹, wie sie selbst unterzeichnen und sich nennen, sind fast in jedem Land als Gruppe bekannt. Wer sie individuell im einzelnen sind, würden wir alle sehr gern wissen. Sie finden - ob mit Recht oder mit Unrecht -, daß die Gerechtigkeit hier auf Erden sehr unzulänglich gehandhabt wird, und haben sich selbst dazu ausersehen, das Gesetz zu korrigieren. Sie waren es, die General Trelovitch ermordet haben, den Führer der serbischen Königsmörder. Sie haben den französischen Heereslieferanten Conrad auf dem Place de la Concorde gehängt - mit hundert Polizisten in Rufweite. Sie haben Hermann le Blois, den Dichter-Philosophen, in seinem Studio erschossen, weil er die Jugend der Welt mit seinen Gedankengängen verdorben hat.«
Der Außenminister überreichte unserem Reporter schließlich eine Liste mit den Verbrechen, die von diesem außergewöhnlichen Quartett begangen worden waren.
Unsere Leser werden sich an die Umstände jedes dieser Morde erinnern, und gleichzeitig wird einem aufgehen, daß bis zum heutigen Tag keines der Verbrechen mit einem der anderen in Verbindung gebracht worden ist - so streng haben die Polizeibehörden der verschiedenen Nationen das Geheimnis der »Vier Gerechten« bewahrt; und gewiß ist keiner der Umstände, der die Existenz dieser Bande unzweifelhaft aufgedeckt hätte, wäre er enthüllt, vor dem heutigen Tag veröffentlicht worden.
Der ›Daily Megaphone‹ ist indessen heute in der Lage, eine Liste mit sechzehn Morden zu veröffentlichen, die von den vier Männern begangen worden sind.
»Vor zwei Jahren wurde nach der Erschießung von Le Blois durch irgendeinen Fehler in ihren fast perfekten Arrangements einer der vier von einem Detektiv erkannt, als er das Haus Le Blois' in der Avenue Kleber verließ. Er wurde drei Tage lang beschattet, in der Hoffnung, die vier zusammen schnappen zu können. Doch zu guter Letzt entdeckte er, daß man ihn beobachtete, und er versuchte zu entkommen. In einem Cafe in Bordeaux wurde er in die Enge getrieben. Sie waren ihm von Paris aus gefolgt. Bevor er getötet wurde, erschoß er noch einen Sergent de ville und zwei andere Polizisten. Er wurde fotografiert, und sein Bild machte in ganz Europa die Runde, aber wer er war oder was er war, selbst welche Nationalität er gehabt hatte, ist bis heute ein Geheimnis geblieben.«
»Aber die vier existieren doch noch ?«
Sir Philip hob die Schultern. »Entweder haben sie den
Mann ersetzt, oder sie arbeiten nur zu dritt.«
Abschließend erklärte der Außenminister: »Ich gebe dies alles durch die Presse bekannt, damit jeder die Gefahr erkennt, die nicht nur unbedingt mich bedroht, sondern auch jeden in der Öffentlichkeit stehenden Mann, der den Wünschen dieser unheimlichen Macht zuwiderhandelt. Und zweitens hoffe ich, daß die in Kenntnis gesetzte Öffentlichkeit jenen bei der Erfüllung ihrer Pflicht helfen, die für die Erhaltung von Recht und Ordnung verantwortlich sind, und durch ihre Wachsamkeit verhindern, daß weitere ungesetzliche Handlungen begangen werden.«
Von Scotland Yard daraufhin angestellte Nachforschungen brachten keine weiteren Informationen ans Tageslicht, außer der Tatsache, daß die oberste Kriminalpolizeibehörde mit den Polizeichefs auf dem Festland in Verbindung stand.
Es folgt eine komplette Liste mit den Morden, die von den ›Vier Gerechten‹ begangen worden sind, zusammen mit all den näheren Einzelheiten, die die Polizei in Hinblick auf die Ursachen der Verbrechen sicherstellen konnte.
Wir schulden dem Außenministerium Dank für die Erlaubnis, die Liste abdrucken zu dürfen.
London, 7. Oktober 1899. Thomas Cutler, Schneidermeister, unter verdachterregenden Umständen tot aufgefunden. Bei der gerichtlichen Leichenschau erheben die Geschworenen 'Mordanklage gegen eine oder mehrere unbekannte Personen‹. (Die von der Polizei ermittelte Ursache für den Mord: Cutler, ein vermögender Mann, der eigentlich Bentvitch hieß, war ein besonders widerwärtiger Ausbeuter und Leuteschinder. Drei Verurteilungen im Zusammenhang mit dem Arbeiterschutzgesetz.
1 comment