Manchmal ist es nicht auszuhalten.”
Marie verlor kein Wort aller dieser Offenbarungen und Rätsel.
„Nimm dir Kaffee! Oder nein, du willst natürlich Schokolade. Bestellen wir auch noch. Du kannst alles haben, bei mir ist es gut und reichlich. Dabei pfeif ich auf das Ganze. Was meinst du, soll ich wieder hierbleiben? Du siehst doch so vernünftig aus, rede mal!”
Marie atmete kaum, viel weniger sprach sie.
„Ich habe unsere Schwester Frieda gesehen”, sagte Antje. „Sie mich auch. Aber viel Zeit hatte sie für mich nicht übrig in ihrem Schlächterladen. Sie fährt nach Lübeck und kauft Konserven ein für ihren Che f, das kann man eine Vertrauensstellung nennen. Außerdem ist sie richtig verlobt und sogar mit einem Kaufmann! G. P. Tietgen ist auch Kaufmann.”
Marie hörte nichts mehr. Antje hatte auf ihrem Sofakissen das Gesicht der Wand zugekehrt. Als sie wieder anfing, klagte sie wie ein Kind.
„Unsere Schwester Frieda macht den Lehnings Ehre. Der wird Mama nicht solche Sachen an den Kopf werfen wie neulich mir. Mit ihrem Mann wird sie ein kleines Geschäft aufmachen, zuerst noch ganz klein. Alle werden sie hochachten. Niemand wird ihr zumuten, daß sie die Familie unterhält, und ihr mit Brodten und dem Armenhaus drohen.”
Marie ertrug die klagende Stimme nicht länger, sie brach in heftiges Weinen aus. Auch Antje vergoß Tränen, sie schluchzte in das seidene Kostüm der großen Puppe hinein. Schließlich setzte sie sich auf und sah Marie an - sie hatte ein anderes Gesicht als sonst, oder wollte doch ein anderes haben, Marie erkannte die Anstrengung.
„Soll ich dir etwas raten, Marie? Bleibe lieber solide! Du hast noch Zeit, solange kannst du aufpassen, wer weiterkommt, ich oder Frieda.”
„Ja”, sagte Marie gehorsam.
„Jetzt iß mal den Kuchen auf i” Marie tat es. „Du könntest Schneiderin werden. Damit ist immer etwas zu machen, und was die uns für ein Geld abnehmen! Verstehst du schon etwas von Kleidern? Ich will dir meine zeigen.”
Sie sprang auf, der Schmerz war fort. Sie trug alles zusammen, was sie besaß, Marie wurde eingeweiht in die höchsten Dinge. Sie wagte nicht einmal mit ihrer Hand daran zu rühren, aber Antje zog ihr ein Kleid über. Natürlich paßte es nicht, dennoch zeigte der große Spiegel eine Marie, wie diese Welt sie noch nie erblickt hatte. Antje stellte ihr Grammophon ein und tanzte mit Marie.
„Du kommst bald wieder. Das Kleid könntest du eigentlich behalten. Nein, lieber doch nicht, ich brauche es noch. Dafür kriegst du die Puppe! Wiedersehen, Marie! Ein Abendkleid erwarte ich noch aus Hamburg, ich zeig es dir dann.”
Marie war heraus aus Köhns Hotel, und im Arm hielt sie einen langen Clown, grüne Seide und Mehlgesicht. Etwas betäubt dachte sie: ,Antje wollte mich in ihre Zucht nehmen! Zu Mama habe ich gesagt, was Antje mir alles geben wird!’ Sie fand nur schwer nach Haus, vorher hatte sie sich ausgedacht, was sie vorbringen wollte. Antje hätte versprochen, sie Schneidern lernen zu lassen! Darauf blieben wirklich alle harten Worte ihrer Mutter aus.
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