Ihre kleinen Geschwister bewunderten den Clown, während Marie im stillen wiederholte: ,Das nächste Mal bitte ich sie, daß sie mich Schneidern lernen läßt, dann tut sie es.’
Als es schon wieder zu lange dauerte, bis Antje sie rief, ging Marie von selbst hin - und bekam vom Portier einen Bescheid, den sie zuerst nicht verstand. Antje war abgereist. Sie war abgereist? Am Morgen hatte sie doch noch gebadet, wie immer mit vielen Bekannten. Marie glaubte dem Portier nicht; er wandte gerade den Rücken, da huschte sie nach der Treppe.

Das Zimmer Antjes stand offen, es war verlassen und noch nicht aufgeräumt. Am Boden lag Papier, dazwischen aber dasselbe Kleid, das Antje hatte Marie schenken wollen. Sie brauchte es noch, aber jetzt hatte sie es fortgeworfen. Marie rollte das Stückchen Seide schnell zusammen und steckte es unter ihre Schürze. Auf dem Tisch stand Kaffee, noch warm. Sie hätte ihn trinken dürfen, sie war eingeladen. Sie sollte wiederkommen, hatte Antje gesagt! Antje erwartete ein Abendkleid aus Hamburg und wollte es ihr zeigen! Marie fühlte eine Beklemmung, so angstvoll, daß sie nicht weinen konnte. Das verlassene Zimmer war leer und ohne jedes Geräusch. Plötzlich nahm Marie Reißaus.
Hiermit war der Sommer zu Ende, es wurde sofort kalt, die letzten Badegäste verschwanden vom Strand. Marie spielte manchmal allein bei den Booten am Wasser, die Fischer beachteten nicht, was sie trieb; sie war doch noch ein Kind, obwohl so hochbeinig. Sie spielte aber Badegäste, sie verkörperte in einem Vicki, Kurt und Marie. Sie befahl Marie, sie abzutrocknen, sie ließ Marie im Sand bauen, sie freute sich zu dreien und warf Steinchen über die glatte See - die in Wirklichkeit stürmisch war.
Bald darauf traten schwere Stürme ein, und ein großes Schiff scheiterte vor Warmsdorf. Als es auflief, waren alle Mann schon längst von Deck gespült und ertrunken, aber noch eine Zeitlang trugen die Wellen auf den Strand, was sie besessen hatten, Konservenbüchsen und Geldstücke. Die Warmsdorfer holten sich alles, zugleich mit einer Menge Bernstein, das der aufgewühlte Meeresgrund ihnen schickte.
Der Sturm legte sich endlich, es wurde sogar ein wenig wärmer, und nach der Schule ging Mingo Merten mit Marie an den Strand. Er behauptete, jetzt würden sie etwas finden, das die anderen nicht mehr suchten. Sie fanden aber eine Wiege, die Wiege eines kleinen Kindes, es war das Kind des Schiffers gewesen. Wo war es jetzt, wo waren seine Eltern? Die Wiege wurde durch Metallreifen zusammengehalten, so hatte sie den Wellen widerstanden. Marie lief und holte ihren langen Clown. Er zeigte schon große Schäden, sie legten ihn trotzdem hinein und nannten einander jetzt Vater und Mutter. Sie kochten im Sand, er kam vom Fischen nach Haus, und sie aßen. Bei allem ahmten sie die schweren Stimmen der Erwachsenen nach - auf einmal sagte Mingo in seinem natürlichen Ton:

„Wenn wir groß sind, machen wir das wirklich.”

Marie sah ihn an und lächelte glücklich. In diesem Augenblick fiel Antje ihr ein. Nach allem, was Antje geredet und versprochen hatte, war sie abgereist ohne ein Wort, und auch seither blieb es von ihr still. Eine Beklommenheit wie in dem verlassenen Zimmer ihrer älteren Schwester wollte Marie ergreifen; sie fürchtete sich vor etwas, das nicht sicher ist. Sie fürchtete die Unzuverlässigkeit alles dessen, was Ernst heißt.
„Spielen wir doch lieber!” bat sie mit zitternden Lippen und die Augen voll Schrecken.
Er erkannte, wie es um sie stand, er sagte: „Auf mich kannst du dich verlassen. Ich heirate dich.” Dann küßte er sie, und sie erwiderte es.
Der nächste Sommer kam und ging fast unbemerkt. Mutter Lehning arbeitete auf einem entfernten Hof, Marie ganz allein mußte alles im Hause verrichten, was der Vater und die Geschwister brauchten.