Er rief: „Blarrmarie!” Plötzlich langte sie ihm eine; keiner von ihnen hatte es erwartet, er nicht und sie selbst nicht. Nach dem ersten Schrecken schlug er zurück, sie kratzte und bekam ihren Teil Prügel, aber nicht mehr als er. Denn er war nur schwächlich für einen Jungen, war als kleines Kind immer krank gewesen und wurde daraufhin noch weiter verzogen. Sie lief fort, da lag er am Boden und schimpfte ihr nach. Als sie schon weit war, hörte sie ihn in einem anderen Ton nach ihr rufen. Wollte er, daß sie wiederkam? Sie ließ sich nicht aufhalten.
Die folgende Zeit sah keiner den andern auch nur von fern an. Wenn Marie an seinem Haus vorbeiging, dachte sie gewöhnlich: ,Mingo ißt Scholle.’ Er hatte ihr erzählt, daß die Speisekammer bei ihnen immer offenstand. Sie konnte es kaum glauben. Darüber trat ein Sommer ein. Zehn Jahre war sie alt. Diesen Sommer sollte sie nicht vergessen.
Die Badegäste zeigten sich, und in der Vorderreihe, wo die besseren Villen des Seebades Warmsdori stehen, mietete eine Berliner Familie, der Herr, die Dame, ein Mädchen und ein Junge. Die Eltern machten alles mit, was los war, Segelregatta, Autorennen. Auch den Chauffeur und die Zofe benötigten sie bei ihrem anstrengenden Leben und suchten daher jemand, der am Strande auf ihre Kinder aufpassen sollte.
„Das ist ein hübsches Kind”, sagte die Dame laut, als Marie vorüberging. „Halt mal!” rief sie. Marie glaubte zuerst, sie hätte etwas verbrochen. Die Dame erklärte dem Herrn, das Mädchen sehe vernünftig aus, groß sei es auch schon, und mit dem Wasser wüßten sie hier von klein auf Bescheid. Man könnte es versuchen, außerdem hätten die Kinder gleich jemand zum Spielen.
Marie stand dabei, während über sie beraten wurde, begriffen hatte sie noch nicht. Die Herrschaften waren weder aus Lübeck noch aus Hamburg, sie drückten sich anders aus. Die Kinder fragte sie sofort, wie alt sie seien. „Wir sind neun”, berichteten sie. „Alle beide, weil wir Zwillinge sind.”
Die Dame bestimmte: „Ihr geht jetzt gleich an den Strand. Schön, ihr könnt baden, Marie trocknet euch ab. Marie Lehning heißt du? Mit deinen Eltern mache ich es später richtig. Jetzt haben wir keine Zeit.”
Das Auto hupte. „Komm schon!” verlangte der Herr, und fort waren die beiden.
Marie erfüllte ohne weiteres ihre Pflichten. Sie nahm die Kinder an beide Hände, als wäre der Unterschied zwischen ihr und ihnen nicht nur ein einziges Jahr gewesen. Sie führte sie auf die Strecke des Strandes, wo man sich ausziehen konnte. Die Herrschaften hatten vergessen, Geld dazulassen - für die Badeanstalt, für Milch und Kuchen, die schwimmende Puppe und alles, was die Kinder sich sonst noch wünschten.
„Aber morgen kriegen wir’s”, behauptete der Junge.
Marie sah ihn sich an. Er war dunkel, furchtbar blaß, und er verkrümmte den Mund, es bedeutete Geringschätzung.
„Ich kann mir alles kaufen, wenn ich will.”
„Auch das kleine Motorboot”, ergänzte seine Schwester.
„Na und das große?” fragte er frech.
„Wir sind furchtbar reich”, behauptete die Kleine.
Marie dachte bei sich: ,Töw man ‘n beeten!’ Das hieß: Warte nur! Als sie dann mit ihnen ins Wasser ging, wollten die beiden Badegäste nicht weiter hinein als bis an die Knie, so warm und spiegelglatt es auch war. Marie gab nicht nach, obwohl sie flennten und sich an sie klammerten.
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