Vater entäußerte sich seines arglosen Talers, und
ich damit flott zum Kaufmann Ott und für den Taler dreist
Lakritzen verlangt. Als ich aus der Tür trat, hatte das
Schicksal, das seine Rache nicht hastig genug betreiben konnte,
Pastor Ohl zur Stelle gebracht. Pastor Ohls Hand langte nach meiner
mit dem geliebten Naschkram und überlieferte mich der meines
Vaters, eines heftig erzürnten Vaters. Das Gelump flog zum
Fenster hinaus, und mir kam zu, was meine Tat wert war.
Es gab noch andere Gelegenheiten, schuldig zu werden. Hinterm
Hause der Teich war eine Welt voll Wunder, und überm Wundern
fand man sich unversehens als aus dem Wasser gezogenes Kind
geborgen, aber nicht bedauert, denn es war streng verboten, ins
Wasser zu fallen; wer es dennoch nicht ließ, bekam
Schläge. Einst war Edmund Steffan vom Steg geglitten, und wir
zwei Retter, Hans und ich, hielten uns verzweifelt an seinen Beinen
fest, unbehilflicher als er, der mit dem Kopf unter Wasser lag und
sich ohne uns wohl leichter herausgeholfen hätte. Mich hatte es ein
anderes Mal erwischt, und bald lag ich trocken im Bett und wartete.
Vater kam heim, und ich hörte ihn mit forschen Schritten, wie
es seine unverkennbare Art war, herantreten. Ob er den Stock
mitbrachte, weiß ich nicht, denn gewillt, dem Verhängnis
auf einem gangbaren Wege auszuweichen, tat ich die Augen zu und
stellte mich, zwar nicht tot, aber schlafend, und tat es so lauter,
daß alles eine freundliche Wendung nahm. Vaters Schritt wurde
sanft, er hielt inne und bog vom Wege des Rechts ab. Leise ging die
Tür, und ich fand es gut so.
Aber im Winter bekam der Teich seinen kalten Meister, und das
Eis bot uns erlaubte Bahn. Mich, mit dem väterlichen Verbot
des Ertrinkens im Kopfe, überkam die Vorstellung, daß
wohl auch der Vater einmal schuldig werden könne, als er mit
andern Herren in der Dunkelheit auf dem Eise geblieben war, und ich
rannte in der Gitterbettstelle auf und ab und schrie meiner Mutter
in die Ohren: »Barlach ist tot, Barlach ist tot!«
Übrigens faßte ich ganz ohne Anleitung eines Edmund
Steffan in Schönberg die Idee des Selbstmords. Wenn es mit
mir, wie nicht ausgeschlossen war, zum Soldatwerden kommen
würde, da sollte man schon sehen: »Ich gehe ins
Zarnewenzer Gehölz und finde eine alles schnell ordnende
Giftpflanze.« Oder: »Da kommt ein Wagen die Straße
herunter, was nötigt mich auszuweichen, ich kann mich ja
beliebig totfahren lassen.«
Und noch andere Spiele eines flügellüftenden
Nesthäkchens von Seele. Beim Gang ins Zarnewenzer Gehölz
beobachtete meine Mutter, wie ich mit einer Gerte die
Klettenpflanzen des Grabens peitschte und murmelnd immer dasselbe
versicherte: Sag die Wahrheit, sagt meine Mutter zu mir – sag
die Wahrheit ...« Was sie danach als Erklärung aus mir
herauslockte, war dieses: ich hatte einem andern Jungen Kletten ans
Zeug gesetzt, weswegen seine Mutter gewiß fragen würde,
wo er denn gewesen sei, und er, leugnend, im Wald oder Feld
herumgetrieben zu sein, bei offenbarem Lügen erwischt,
angefahren werden würde: »Sag die Wahrheit!«, was er
mir
als dem schadenfrohen Anstifter mit den Worten hinterbringen
würde: »Sag die Wahrheit, sagt meine Mutter zu
mir.«
Edmund Steffan wurde von Zeit zu Zeit unsere Treppe
heraufgeboten. Dann gab ihm meine Mutter ein gutes Butterbrot und
fügte eine Pauke hinzu, die er mit scheelen Blicken
ausdauerte, solange das Kauwerk arbeitete. Sie änderte nichts
an ihm, aber ich wurde anderweitig hörig.
Wollte ich die stärkere Gewalt, der ich verfiel, selbst
nicht weitläufiger schildern als Edmund mit seiner
Großmäuligkeit und seiner holpernden Rede, mit der,
soviel davon er auch vertat, sein Hals verstopft zu bleiben schien,
so dürfte ich für immer am Schreiben bleiben. Des Wetters
Däumling war ich wohl längst, den es, in welche Falte
seiner Farbigkeit, in welche Tasche seiner Räumlichkeit es
wollte, zu seinem unaussprechlichen Genügen stecken konnte.
Die Sattheit und Schwere der Wedeler Marschen, die Elbfernen, sind
mir fortgeschwemmt, aber die Schönberger Tage und Nächte
sind schon auf festen Erinnerungsboden gekommen.
Um die Zeit, wo seine Söhne einen Podex nachweisen konnten,
der den Strapazen gewachsen war, ließ mein Vater sie zur
Teilnahme an der Praxis zu, natürlich zur Landpraxis, die
jetzt mit Fuhrwerk besorgt wurde – und da bin ich denn
wirklich einmal bis ans Ende der Welt gekommen. Ich wußte
bestimmt, daß das Hinschweifen durchs raumlose Dunkel am Rande
der Wirklichkeit stattfand, und hatte viel, viel Zeit, über
solche Selbstverständlichkeit des Unwahrscheinlichen ohne
Ablenkung nachzudenken, denn gesprochen wurde auf all diesen
Landfuhren fast nie.
Ich kam zu großen und kleinen Leuten, zu Bauern und Herren,
sah Menschen und Dinge unter niedrigen und stattlichen Dächern
und lernte – Geduld und Warten, denn der Dr. Barlach betrieb
nach seiner eigenen Formulierung keine Dampfdoktorei und
vergaß an Krankenbetten frierende Pferde, Kutscher und Kind.
Ich meine, die beste Erziehung liegt im Beispiel wertvollen Tuns,
und Kinder haben außer Augen und Ohren noch mancherlei
empfangende Organe. Es braucht nicht beim Verschlucken von
Knöpfen, Zigarrenstummeln und Auflesen der Leckereien
vom Mistberg zu bleiben.
Einmal sah ich nach räderndem Verlauf mancher Stunde von
einem Steg in einen grünlich-unvergeßlichen
Wasserabgrund, sah von sicherer Sandigkeit eines Ufers jähes
Hinabgleiten der Welt in Bodenverlorenheit, und als später
mein vergnügter und befreiter, von Zuversicht gleichsam
angeheiterter Vater zu mir sagte: »Wir ziehen nun bald nach
Ratzeburg«, da fragte ich hellhörig zurück:
»Ist das da, wo das schöne Wasser war?« – Das
war es.
Ich lerne schreiben und lesen
In Ratzeburg taten sie mich und Hans in Tante Lomeyers
Spielschule am Dom, gehalten in einer mittelalterlichen
Backsteinkluft, in die man sich von der Turmseite des alten Baues
hinabschachtete, wenn man nicht lieber vom Palmberg aus durch einen
Stufengang hinaufstolperte. War es auf dem Schulwege kalt, so
erstarrte meinem Bruder wohl der Mut, und da er beim Weinen nicht
auch noch gehen konnte, so mußte er stehenbleiben – das
war seine Art, unsere Lage klarzulegen. Ich verstand seine Meinung
prompt und widerlegte sie mit Faustschlägen.
Bei Tante Lomeyer hatte ich nichts anderes zu tun, als mein
Lesen zu vergessen; denn ich hatte doch schon auf der
Schönberger Schule die Nase ins Buch stecken müssen, in
der Septima des Gymnasiums wurde ich auf dem Buchstabenweltmeer
dann endgültig flott. Auch Schreiben durfte man mir zumuten,
zunächst auf Schiefer, und so habe ich damals auf der
Schiefertafel meine erste erzählerische Spielerei
gestümpert. Als im nächsten Jahre diese Übungen in
blauen Heften mit Tinte und Blei vor sich gingen und ich mit
unserem Mädchen zum Einkauf in einen Laden kam, da lief mir
beim Anblick dieser für mich erhandelten Werkzeuge warmes
Wohlgefühl übers Herz – ich merkte was von gutem
Umgehen mit so herrlichen Sachen.
Ratzeburg ersetzte mir in geläuterter Form meinen Edmund
Steffan, und obendrein doppelt; denn da erwarteten mich Vetter
Richard und Hans Hudemann und führten mich nicht in stinkende
Höfe und Hinterwinkel der Häuser, sondern in den Wald zu
einem braven Waldläufer- und Indianerleben. Am Waldrand
längs der Einhäuser Chaussee hatten wir unseren Wohnbaum,
nach vernünftiger Ordnung ich auf einem unteren, jeder auf
seinem Ast für sich, bloß eine bequeme Gabelung für
gelegentliche Bedürfnisse war gemeinsam. Von hier herab
brachten wir mit räuberischen Tönen den Wanderer fast um,
beschlichen voll arger Absicht die unschuldigen Eingeborenen und
übten eine gemütliche Indianerphantasie gegen jede
vorkommende Harmlosigkeit. Beim Streifen durchs Fuchsholz aber fiel
mir die Binde von den Augen, und ein Wesensteil des Waldes
schlüpfte in einem ahnungslos gekommenen Nu durch die
Lichtlöcher zu mir herein, die erste von ähnlichen
Überwältigungen in dieser Zeit meines neunten bis
zwölften Jahres, das Bewußtwerden eines Dinges, eines
Wirklichen ohne Darstellbarkeit – oder wenn ich es hätte
sagen müssen, wie das Zwinkern eines wohlbekannten Auges durch
den Spalt des maigrünen Buchenblätterhimmels.
Das Haus
Nach kurzer Zeit zogen wir aus der Seestraße in das alte
Haus mit dem hohen Dach, das ich mein Vaterhaus nenne. Es lag
abseits neben der Stadtkirche und war auf dem ehemaligen Grabplatz
gebaut. Zur anderen Seite lagen die Gärten und Abseiten,
Scheunen und verlorenen Orte des Landratsamts, und es barg Winkel
und Verschlage, Böden und Finsterräume, allzu
erwünscht für ein Gemüt voll Ahnen und Grausen
– Schicksal brütete in diesem Hause, ein dunkles,
herrliches und schlimmes Wesen machte sich ans Werk und ordnete
nach seiner Einsicht den Zustand der Familie des Dr. Barlach.
Hierzu genügten ihm die Jahre von 1878 bis 1884.
Mein Vater war ein ziemlich kleiner, scharfer, feuriger,
schwarzlockiger Herr, schnell bereit, in allen Dingen Ernst zu
machen, und drauf und dran, mich in eine Kadettenanstalt zu tun,
als ich seinen Verdacht erregte, es auf einen Taugenichts
anzulegen. Diesem Plan widersprach meine Mutter, die niemals
müde wurde, meine tausend Ungebärden mit Geduld zu
umhegen, üble Vorzeichen mit Glauben zu segnen und Geschehenes
auf dem Friedhofe ihres grenzenlosen Vertrauens zu begraben.
Die Ehe der Eltern war so glücklich wie eine Ehe sein kann
– und nicht minder unglücklich.
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