Die behagliche Kindersituation in der Schlafstube, wenn im Wohnzimmer heiteres Gespräch ging oder mit dem Lampenlicht durch Türritzen Bruchstücke aus David Copperfields lustleidigen Kinderzeiten schlichen, wechselten mit bitterlich anderen.

Herr v. Bülow von Kogel, der sich auf seinem Gute langweilte, nistete sich ein und trank in später Nachtstunde dem schlafbedürftigen Doktor den Wein aus, den er sich in Kogel verdient hatte. Und da gab es eine andere häßliche Stimme im Hause, die aus der Kehle und von der Zunge der Nachtglocke. Ihr war es gegeben, das beglückt-unbewußte Schweigen des Dunkels der im Hause ruhenden Nacht zu verscheuchen. Das wachende Kind dachte, sie müsse sich heiser heulen, bis endlich noch jemand erwacht, bis endlich gefragt wird und Antwort kommt: »Na Schlagsdörp, Hä Dokter, na'n Buern Sötbeer b'in Diek anne Schasseh.« – »Je, wat fählt em denn?« – »Hei is bannig leeg, Hä Dokter.« – »Je, ick will äwer weeten, wat em fählt, dat ick wat mitnähmen kann, wo hett he Wehdag?« – »Hei is bannig leeg, Hä Dokter.« – »Na, denn gah man hendal na de Schün und wak den Kutscher op, ick bün glik farig–.«

Und dann will der Wagen immer noch nicht kommen, denkt das wachgewordene Kind, bis endlich Pinaks und Lieses verschlafene Hufe durch die Stille trappeln und der Wagen nachschleicht und endlich was im Dunkeln davonrumpelt, als hätte die Nacht Kolik im Leibe und es ginge ihr holtergepolter was ab.

Nein, das Ideal meiner Mutter eines Seins auf einsamer Insel lebenslang in trauter Gemeinschaft mit dem geliebten Mann fand auch in Ratzeburg keine Erfüllung. Gesellschaft tat ein übriges, um Kinder vor Eltern, Eheleute voreinander fremd zu machen.

Ich erzähle

... aber ich erzählte. Wenn wir abends alle vier unser Gebet getan hatten, wohlzugedeckt und für die Nacht besorgt waren, dann ging es los. Es wurde erzählt, natürlich aus freier Faust heraus und sonder Zensur. Höchstens Niko schnarchte ins Ende hinein, aber sonst hielt die Dunkelheit, wie mir schien, einen ganzen Buschwald von Ohren aufgespannt.

Ich erzählte die Geschichte vom schwein'schen Indianer, kurz und bündig, und leistete absichtslos eine Satire auf die epidemische Indianertümelei, ich häufte die Legenden von Ernst Bärlein auf Goldensee, der mich einmal in den Ferien aufs väterliche Gut geladen hatte in der irrigen Vorstellung von meiner zuverlässigen Gutartigkeit. Manches hatte ihn schon befremdet, aber als ich mir herausnahm, beim Angeln einen stattlichen Brachsen zu fangen, gegen den sein zutage gebrachtes Wassergewürm allzusehr abfiel, kehrte er mir die Seite seiner Ungnade zu.

Dann erwuchs weiter das Epos »Kuhgesicht« – Kuhgesicht war der Beiname eines unserer Lehrer, den die Schüler für alle Zeit dafür brandmarkten, daß er sich in einer verhängnisvollen Sekunde hatte hinreißen lassen, einen Schüler »Du Kuhgesicht!« zu schimpfen – Kuhgesicht in den peinlichsten Lagen zu zeigen, machte den Inhalt meines Epos aus, und wir Armen, ich und meine Brüder, löffelten die vielen Suppen der tröstlichen Rache mit der Feststellung, daß Recht doch Recht geblieben war.

Um diese Zeit kamen wir einmal aus der Schule heim und wurden bedeutet, daß unsere Mutter abwesend sei, auf kurze, vielleicht auf längere Zeit. Wir antworteten nicht, fragten nicht und taten zueinander, als sei da alles auf dem sichern Boden des Notwendigen, und mein Vater, der wissen mußte, was er über seine Frau verhängt hatte, schwieg seinerseits in der gleichen Scheu vor Gefühlsäußerungen, die er bei uns dankbar respektierte, nur, daß er mich von Zeit zu Zeit aufforderte, einen Weihnachts- oder Geburtstagsbrief zu schreiben.

Habe ich von Kuhgesicht gesprochen, so kann Tiek nicht übergangen werden, Tiek mit dem Menschenaffenbart, dieser Schulmeister von altem Schrot und Korn, der zur Andacht früh auf der Orgel aufs schönste präludierte, aber zur Einleitung des Unterrichts zuweilen ohne erkennbares Übelwollen zum Pult ging, den Stock hervorholte und die ganze Klasse verprügelte – gemütlich, selbstverständlich, »doch man so«, weil Prügeln gut tut, sowohl dem, der gibt, wie dem, der nimmt. Demnächst blies der Wind seiner Laune einen andern Strich, dann gab es Halloh, und wir unterbrachen Rechnen, Singen und Zeichnen, um dem andern Tiek, einem leibhaftigen Narren, seine eigenen Faxen widerzuspielen. Wir kollerten auf die Bänke nieder, wenn wir nach dem rechten auch das linke Bein in die Luft strecken wollten, wie Tiek vorschlug – aber nach manchen bösen Montagsstunden standen wir Sextaner auf dem Korridor zuhauf in der Pause und wiesen einander mit ernsten Mienen die Folgen des genossenen Unterrichts. Dem einen waren die Frostfinger wundgeklopft, und es geschah Paul Siebenmark, daß ihm gerade an dem Morgen nach der Sterbenacht seines Vaters unseres Tieks Würgerseele ganz besonders kund und offenbar wurde.

Bock, Herr von Neuvorwerk, wußte nicht, wie er dem Übel, unter dem auch seine Söhne seufzten, abhelfen sollte – ein Kalb als Opfer war ihm zu teuer, eine Gans zu gering, und so unterblieben selbst solche zahmen Versuche, dem Sadisten das Handwerk zu legen.

Unser Direktor meinte es gewiß gut, aber er hatte seine besonderen Begriffe von Hinanführung der Jugend, wenigstens erinnere ich mich einer seltsamen Regung, als er zur Andacht den Bibelabschnitt der Geschichte von Lot und seinen Töchtern vorlas, die aufgereihten Lehrer blickten betreten, was ich genau beobachtete, denn ich stand als Sextaner vornean.

Konrektor Hornbostel, ob seiner Dürre Snieder genannt, stand unter ihnen allen aufgereckt wie ein Gevattersmann der alten Zeit im langschößigen Rock mit Vatermördern da, ein hochgezüchteter Rest ironisch überlegener Geistigkeit, ein Gelehrter von Stil und ein rettungsloses Original. Alle wir dummen Jungen tanzten ihm auf der Nase, aber er kam und ging mit nobler Getragenheit, als wärme er in den Taschen seiner Rockschöße die schonungsbedürftigen Überbleibsel einer besseren Zeit.

Kuhgesichts markanten Bartwuchs aber schmierte ich hundertmal an die Wände des Gymnasiums, und auch sonst begann in mir etwas spürbar zu werden, was nach Form verlangte, und ich schwamm zeitweise in der rettenden Sehnsucht nach irgend etwas, das durch mich geschehen sollte.

Ich muß erfahren

Mein Vater gab sich und seinen Söhnen für die abwesende Doktorsfrau die Doktorstochter Hermine Bark aus Rhena als Ersatz, ein Wesen wie zum Mahnbild erlesen, unvergleichlich befähigt, alles Vergessen der Fehlenden durch den Mangel aller Gnade bei Gott und den Menschen zu verhüten. »Herminsch«, wie wir sagten, war eine aus Saft und Jugend heraus zäh geräucherte Jungfrau. Es kam sogar zum Handgemenge zwischen ihr und uns Jungen – der eine sprang zu, als er den andern sich widersetzen sah, und der dritte und vierte griffen ein. Nach hergestelltem Gewaltfrieden saßen wir vier in der Pfeifenkrautlaube des Gartens und pflegten in traurig-süßer Eintracht unsere Wunden. Herminsch machte aber doch einige unzulängliche Versuche, von ihrem Ufer an das unsere überzusetzen, unnötig; denn wir verwarfen sie mitsamt ihren Versuchen, wir haßten Herminsch von da, wo sie kam, bis da, wo sie ging. Krankheiten des Vaters brachten weitere Änderungen des häuslichen Zustandes, ein junger Arzt versorgte die Praxis, und auch er, wenn auch nicht handgreiflich, lernte die Herminsche Fuchtel kennen.

An einem Abend während dieser unerwünscht geordneten Zeit mag es gewesen sein, als ich bei voller Stille des leeren Hauses und verlassenen Gartens in der Veranda von einem Buch aufsah. Der gelinde Dämmer des Sommerabends lag überall, und vom Benningsenschen Garten winkten die Wipfel hoher Tannen über die Scheunendächer. Hier widerfuhr mir abermals eine Erschütterung, die im Augenblick durch mich ging und ganz sinn- und gegenstandslos war – und vielleicht doch das heftigste Erleben, das mir beschieden gewesen ist. Ein anderes Mal stand ich an der Nordecke der Insel am großen See hinter dem Gymnasium bei einem ganz artig heranfahrenden Winde und erlebte im Augenblick des Zerfließens einer Welle ein ähnlich übermächtiges Gefaßtwerden – dabei muß mir eine auffällige und ziemlich lächerliche Gebärde entfahren sein, denn ich hörte, wie jemand verweisenden Tons orgelte: »Barlach, Barlach!« – und sah aufblickend in meines Lehrers Bertheau vor Unbehagen steif gewordenes Gesicht, der eben seine junge Frau des Weges spazieren führte. Sein Fleisch wucherte mit einem entsprechenden Wuchs der inneren Menschlichkeit um die Wette, sein von Korps und Couleur gezüchtetes Weltgefühl war im Augenblick von meiner offenbaren Hingegebenheit an irgendwas peinlich Unangemessenes tief gekränkt, er schämte sich meiner, sein Gesicht war blau und wie versteinert.

In einer Nacht sah ich erwachend einen Kopf in der Höhe des meinigen mit einem Paar gutmütiger, fast trauriger Augen. In dieser Nacht regulierte ich bei wütendem Herzschlagen, jeder Sekunde Mühseligkeit erliegend, meine Atemzüge, bis ich es nicht mehr ertrug, mich schlafend zu stellen, und die Augen wieder aufschlug. Es war inzwischen heller geworden, und jemand stand am Fenster, hatte den Vorhang beiseitegeschoben, so daß ein matter Schein auf sein Gesicht fiel, das er dennoch zu mir zurückgewendet hielt, als sei er vom Vorsatz hinauszusteigen durch das leise Regen meiner Glieder abgelenkt.

Wer möchte etwas von den beiden Göllners wissen, meinen Feinden von der Stadtschule? Fast alle Stadtschüler waren Feinde der Gymnasiasten und umgekehrt, nicht etwa aus Grund und Anlaß, sondern schlechthin bloß tatsächlich. Trafen wir uns, ich und die Göllners vor allem, so schlug man sich oder riß aus, wie es gerade kam. Der ältere Göllner hätte mich, wäre es nach ihm gegangen, nicht nur von den Straßen, sondern aus Haus und Leben verscheucht, und ein anderer kreuzbraver Bengel, aber ein unbedingter Hasser, fiel uns viere eines Sonntagsnachmittags mit solch ehrlicher Wütigkeit an, daß wir zum Haufen verknäult eigenartig den Markt belebten und durch Ogger Iben, den Tante Minna vom Balkon zu Hilfe gerufen, erledigt werden mußten.

Ogger Iben war ein Überläufer und hielt es mit den »Feinen«. – Unsere Niederlagen posaunten wir nicht gerade aus, aber als mein Vater mich eines Tages, mit mir über Land fahrend, rücksichtsvoll lächelnd auf einen Fall ansprach, der unser Renommee völlig ruiniert hatte, ließ ich seinen Spott gelten. Es hatte der ganzen Mannschaft der unteren Gymnasialklassen simpel an Courage gefehlt, und sie hatte sich im Schirachschen Garten salviert. Die feindlichen andern schlugen drein, als gelte es nicht den kindischen Ernst eines Kräftespiels, sondern Sieg oder Tod.

Ich glitt durch die Tage und weidete durch die Jahre hin, die Augenblicke sogen sich voll Zeitlosigkeit und häuften sich zu Schichten und Gruppen, die unzusammenhängend mit dem Organismus des Schul- und Hauskinderdaseins das Leben im Rhythmus voranführten. Ich lebte mit Lederstrumpf und Sigismund Rüstig kameradschaftlich, einhellig und von ihrem Wesen sattgesäuert und zufriedengeläutert, mit Gestalten eines seltsamen Bandes, platzend voll eines Geschehens, das mich, ungläubig und überzeugt zugleich, oft bedenklich zurichtete, dagegen als widerwilliger Knecht, barsch geheißen, aus meiner Verstörtheit aufzumerken auf ein hochfahrendes Kreisen von gewalttätigen Herrlichkeiten.