Der Name auf dem Titelblatt
mißfiel mir, ich ließ ihn außer acht, bis ich
später feststellte, daß es ein einbändig
vollständiger Shakespeare, übersetzt von Fischer,
Böttger, Ortlepp, Oetkers und andern, war. Schmöker jeder
Art waren willkommen, ich lief ihnen nach, kannte und achtete nicht
Namen, Rang noch Stand – alles war gut, wenn es nur den
Zauber besaß, mich meiner selbst ledig und von mir vergessen
zu machen. Doch das Leben nahm mich bisweilen am Genick und
stieß mich mit der Nase in seine Wirklichkeiten, ich bekam die
Elementarbücher des Geschehens um die Ohren geschlagen,
daß mir der Kopf brummte.
Den Marterweg eines Menschen, der sich unter Krämpfen durch
die Stadt schleppte, begleitete ich, unfreiwillig und fast
unwissentlich, von Station zu Station, vergessend, wo, wer, was ich
sonst war, wenn nicht der Mann der Schmerzen selbst, vielleicht
schwerer leidend, im Gefühl unbarmherziger geschüttelt
als er – – –. Mit unserm Kutscher
»Hoschen«, wie wir ihn nannten, saß ich einst neben
den Pferden auf der Diele eines Bauernhauses, in dessen innerm Raum
sich das Letzte eines an Diphtherie sterbenden Kindes begab. Mein
Vater und der des Kindes unternahmen drinnen irgendwelche
verzweifelten Handlungen zur Rettung oder Erleichterung, wovon die
Tochter des Hauses der Mutter von Zeit zu Zeit wie mit
gewürgter Kehle die grausigen Einzelheiten zutrug. Diese
beiden Frauen standen vor unsern Augen leibhaftig im Tiefsten der
Hölle. Als alles vorüber war, begleitete der Bauer meinen
Vater an den Wagen, drückte seine Hand und sah immer noch wie
ein Mensch aus. Wir fuhren heim und beobachteten ein schweres
Schweigen gegeneinander. Als an einem der nächsten Tage die
Mutter des Kindes aus dem Sprechzimmer trat, vor dem ich gelauscht
hatte, weil mein Vater seltsam eindringlich und, was mich betroffen
machte, wie selbst erschüttert zu ihr gesprochen, sah sie
über mich hin mit Augen, denen das Sehen anderer Dinge als des
einen einzigen von damals verlorengegangen schien.
Die Last, Holzschnitt, 1922
11,3 X 9,1 cm
Einem Knecht auf Kogel war von der Maschine der halbe Arm
abgeschnitten, nun lag er ohne Besinnung bei uns auf der Diele, wo
man ihn abgeladen hatte. Ein blutfeuchtes Tuch war um den Stumpf
gewickelt. Das zarte Kind Else Keferstein war bei meiner Mutter zu
Besuch und fand durch den Halbverbluteten den Heimweg versperrt,
sie war immerhin etwas älter als ich und wußte schon,
daß der da eben ein anderer war als sie in ihrer backfischigen
Wohlgeborenheit – ich hatte dagestanden und es nicht
gewußt. Also der Zustand des Mannes setzte ihrer Fassung sehr
zu, und sie mußte umkehren und sich an einem Gläschen
Portwein erholen. Ich hörte aber die genaue Schilderung der
Herfahrt mit an, die der Kogeler Kutscher Hoschen machte –
nach solchen und ähnlichen Einblicken blieb ich viele Tage
unbrauchbar für das gemeine Leben.
Nun muß ich auch die sonderbare Erfahrung erwähnen,
die ich mit einem meinen Händen anvertrauten Kaspertheater
machte. Es war ein Weihnachtsgeschenk, die Veranstaltung meiner
Mutter, die hauptsächlichste, fast einzige Gabe dieses Abends,
und ich hatte sie ohne zugreifende Lust empfangen. Dieser Abend
machte mit der Vorstellung der unerschöpflich sprudelnden
weihnachtlichen Lustquelle ein Ende, Trauer kam über mich
Armen, der sich im voraus so unendlich gefreut hatte und doch nur
mit halber Lust beglückt war. Das dumme Theater! Aber wenn ich
dann doch einmal die Puppen zur Hand nahm, halb neugierig, was wohl
damit zu vollbringen sei, vielleicht durch die Erwartung der
Brüder oder Freunde gereizt, so fuhr etwas von ihnen in mich,
so daß das Ding einen selbsttätigen Verlauf einschlug,
daß die hölzernen Köpfe von Kasper, Tod und Teufel
durch meinen Mund ihre Sprache rappelten und daß da
überhaupt Vorfälle sich schoben und miteinander tanzten,
deren Anstifter zu sein ich mir nicht bewußt war. Es brauchte
keine Mühe, höchstens einen gewaltsam hergestoßenen
Anfang, und das Stück bekam Fortgang und Ende.
Mühe hatte ich aber beim Zeichnen – etwas zu
erfinden, ja, das war wohl nicht so schwer, aber solche
schönen Blätter wie die der Prachtausgabe zu Hauffs Märchen
etwa zu kopieren schien mir schon darum verdienstlicher, weil es
weit mehr Arbeit kostete. Eines von diesen mit Blei tief ins Papier
gegrabenen Stücken bekam mein Vater zu Weihnachten. Er
fühlte sich wohl durch meinen guten Willen erfreut und stellte
den Karton in seinem Sprechzimmer auf; als dann einmal ein Bauer
staunend davor Halt machte und zu hören bekam: »Dat hett
min Jung makt«, meinte er ehrlich: »Dat mütt jo een
kloken Jung sien.«
Ich legte indes meinen Kanon des Schönen fest, oder machte
doch Anstalten dazu – muß ein Profil nun so oder so
verlaufen, um das zu sein, was als Ausdruck der baren Herrlichkeit
gelten konnte –, ich zeichnete mit Qual, weil ich die
Beschaffenheit dessen nicht erkannte, was ich zustande brachte, und
sah mein eigenes Gesicht im Spiegel oder sonst jemandes mit
schmerzlicher Neugierde, wie, was ich sah, eigentlich war und was
es mit dem Eigentlichen an diesem – genau besehen Unbekannten
– denn wohl schließlich auf sich hätte.
An einem Nachmittage, als wir aus der Schule kamen, standen die
Eltern uns erwartend zusammen da. Meine Mutter war heimgeholt und
erkannte an unserer stummen Verlegenheit und befangenem
Grüßen ihre Söhne. Das Haus hatte seine Ordnung
wieder, die Ehe blieb ungetrübt, das Dasein ließ sich
harmonisch an, das alte Haus wurde mit einigem Aufwand renoviert,
und doch, als meine Mutter eines Tages durch die offene
Haustür und alle friedlich daliegenden Räume hindurch uns
vier gemächlich auf dem Rasen des Gartens balgen sah, zog die
Ahnung von dem Unbestand dieses behäbig gelagerten Seins durch
ihr Herz.
Vor Pfingsten 1884 reisten die Eltern miteinander zum Besuch der
Altonaer Verwandten, mein Vater kehrte zurück und ließ
seine Frau einige Tage allein, um in der neuhergestellten
Gewogenheit der Sippe warm zu werden. Ich lag im Bett, als ich ihn
bald darauf von einer Fahrt spät heimkehrend zu dem
Mädchen sagen hörte: »Der Kutscher ist krank, und
ich bin auch nicht wohl, Sie dürfen niemand
hereinlassen.«
Es kam
aber doch zu einer Bestellung aufs Land, der Arzt ließ sich
nicht vergebens rufen und kehrte nach einem weiten Fußmarsch
bei Nacht krank zurück. Die Herren Kollegen sahen in dem
Ganzen den Anlaß zu einem launigen Konzil am Krankenbett,
kamen und gingen, berieten ein bißchen und lachten aus vollem
Halse über so ein Ding von Lungenentzündung, qualmten das
Zimmer voll Rauch und blieben alle miteinander aus, als die
Krankheit auf diese Art Behandlung nicht einging. Meine Mutter
wurde gerufen, Onkel Karl, Arzt in Neumünster, eilte herbei
und sagte eines Morgens früh, während er sich mit
Vehemenz die Zähne putzte, zu mir: »Du, mit deinem Vater
steht es faul« –, reiste aber ab, weil er schwere
Fälle in eigener Praxis wahrnehmen mußte.
Der Arzt war ohne Arzt.
Am Dienstag nach Pfingsten wurde ich gerufen und mußte
sehen, wie ein Zoll zu früh eingefordert wurde, ein Zoll, den
ein Mann nicht anerkannte und der grausam eingetrieben ward.
Am Nachmittag dieses sonnigen Junitages gingen wir alle in die
Pfeifenkrautlaube und hörten die Stunde drei vom Kirchturm
schlagen. Sonst war alles totenstill, und die meinem Vater
beschiedenen fünfundvierzig Jahre waren um.
Ich fühle mich sehr
Meine Mutter zog im Herbst 1884 mit uns nach Schönberg
zurück, ich war vierzehn Jahre. Sie ging täglich und
stündlich gefaßt und tapfer den Witwenweg der
sorgenvollen Alltäglichkeit – ich, als Schüler
nichts Ganzes, weder gut noch schlecht, spitzte die Ohren und
horchte seitwärts und aufwärts nach all den neuen
Tönen, die meinen Flegeljahren gepfiffen wurden. Da fand ich
als erstes und Hauptstück die wuchernde, sozusagen aus dem
Rinnstein und dem holperigen Pflaster des Nestes sprießende
blaue Blume einer waschechten Romantik ohne Hemmung, Hut und
Üblichkeit, in die ich, noch mit kurzen Hosen angetan,
hineintaumelte.
Dazumal litt ich obendrein hart an dem Begehr nach Bewunderung
und Geltung und ergab mich weidlich dem Kultus des falschen und
erschwindelten Bestauntwerdens – so malte ich mir aus dem
Tuschkasten eine rotklaffende Wunde auf die Stirn, ging auch
gehoben von der eingebildeten Würde als Sozius eines
wüsten Abenteuers damit auf die allerdings nicht mehr taghelle
Straße, weiß aber nicht, ob irgend jemand von dieser
Mordgeschichte Notiz genommen hat.
Zugleich rüttelte ich die Schwingen und warf mich in den
Äther, wo er sich am grenzenlosesten breitet. Mein Raptus
einer ungeschorenen Reim- und Versschreiberei regte sich bald in
wutartigem Schuß, bald gefiel er sich in einem vertrackten
Zuschnitt von Putzigkeit.
Ich hatte vom Vater einen Westentaschen-Seume, enthaltend den
Spaziergang nach Syrakus, geerbt, und dieses Dingchen von Buch,
dessen Besitz mich seltsam befriedigte, als ob ein Leitfaden zum
Leben als Wanderer, Schriftsteller und Sonderling ganz eigen
für mich zugerichtet sei, ließ mir keine Ruhe, bis ich
ihm ein Gegenstück leiblich gleicher Beschaffenheit erstellt
hatte, aus der eigenen Feder mit mikroskopisch kleinen
Schriftzeichen – schrieb und schrieb ohne Rücksicht auf
die Augen und erlaubte obendrein meinen drei Brüdern, sich mit
Zuhören abzuquälen, wie das trächtige Bäuchlein
von Buch immer voller wurde.
Dann wurde mir eine Tür geöffnet, und ein sanfter
Schub ermunterte mich einzutreten in ein Werkstübchen, von dem
ich nicht wissen konnte, daß es sich zur Lebenswerkstatt
auswachsen würde. Ich erhielt von der Frau Schuldirektor durch
Vermittlung meiner Mutter die Aufforderung, für ein so oder so
geartetes Brettspiel ein Dutzend Vögelchen zu kneten, ein
Klümpchen Ton in die Hand zu nehmen und – nun als Anfang
– einen Kiebitz zu formieren.
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