Es wurde einer, und das andere
Geflügel folgte, bis das Dutzend voll war.
Halt, dachte ich, die Art Hantierung tut gut, – –
die blaue Blume wucherte lustig weiter drauflos, irgendwo bei
einem Schulausflug goß ich mir ahnungslos eine Feldflasche
voll Branntwein auf Anraten eines Mitschülers in den Hals und
kam mit dem Leben davon, ich weidete weiter durch Wald, Wiesen und
Felder mein Dasein im Ausgleich von Tun und Lassen, Versorger
meines Hanges zum ziellosen Schweifen, meine mir genehmste Art, auf
der Welt mit der Welt zu sein, ich hockte in den Klassen, rutschte
von den Bänken der unteren auf die der oberen – Edmund
Steffan, dessen Mund noch immer nicht weiträumig genug war, um
alle heiseren Wortklumpen halbwegs geordnet oder gegliedert
auszuscheiden, fing an, für mich in ein Nichtsein zu gleiten,
die alte Hörigkeit war längst verdorrt, ich trug meines
Vaters solide Schoßröcke auf – und war bei allem
einer geheimen Sicherheit wo nicht stolz, so doch froh, wo nicht
froh, so doch zufrieden, wie wenn sich ein schwaches
Bewußtsein regte, als ob ich in meiner Tasche einen
Heckpfennig trüge, ein so zauberhaftes Stück Eigentum,
daß mit dem Wechsel der Taschen gleichwohl keine Änderung
seiner Zugehörigkeit, kein Wechsel im Bewußtsein unserer
tröstlichen Gemeinschaft miteinander stattgefunden
hätte.
Ich werde geschoben
Es gingen Zuckungen in mir vor, daß alles sich fieberhaft
und wütend umwälzte. Ob sie wirklich aus der
beglückenden, oft aber quälend ratlosen Wachheit kamen,
wie ich nicht anders denken konnte, oder ob es Zustände einer
noch ungelösten Schlafgebundenheit, ein Gähnen und Recken
vor der Entpuppung waren – es geschah mit mir zu meiner Not
und zu meiner Lust – ein gewiß nicht scheinfrommer
Jüngling und dabei immer zu Narrenspäßen aufgelegt,
wohlbehaglich mit der ererbten väterlichen Pfeife und lieben
Büchern in die Häuslichkeit eingeschmiegt, ein ebenso
guter wie schlechter Sohn und Bruder, ein rastloser Besinger von
Familienepisoden in gutgemeinten Reimen und immer wieder vom
scheuchenden Pochen eines Fingers aus irgendwelcher dunklen
Verborgenheit gestört, Grenzenlosigkeit fühlend in der
engen, ach wie engen Wirklichkeit. Einem Stück oder mehreren
Scheiten Buchenholz verhalfen meine Finger mit zufriedenem Getue
zur Form eines Tieres oder Blattes und bewahrten sie vor dem Ofen.
In der Werkstatt des Steinmetzen Busch uns gegenüber boten
sich Bruchstücke von Grabsteinen zu allerlei schnurrigen und
kindlichen Gestaltungsversuchen an. Meister Busch lobte zwar die
ehrliche Ruhe meiner Hand, aber die einzelnen graden, nicht zu
schlank und nicht zu fett ausgefallenen Buchstaben auf einer
höllisch blank polierten Marmorplatte als Weihnachtsgabe
für meine Mutter waren von seiner zünftigen Hand –
auf die halbwegs unauffällig mitlaufenden geringeren durfte
die meine stolz sein. Es waren friedlich belebte und mit leiser
Inbrunst gefüllte Stunden, wenn ich mich so dem schönen
Belieben ohne Selbstkritik überließ, meine Nase hielt
wohlgefälligen Umgang mit Holzspänen und Sandsteinstaub,
und die Welt war ein Kämmerchen für meine
Selbstbescheidung, wo ich ohne Arg hantierte und eine Art
Entfaltung mit der Gläubigkeit der Pflanze geschehen
ließ. – Übrigens stelzte ich mit sehr steilem
Rückgrat und steifem Nacken durch die Schönberger
Straßen und machte mir eine Pflicht daraus, jener Partei des
Städtchens, die gegen meinen Vater auf Seiten der zwei Herren
Dr. Marung, Vater und Sohn, gestanden, wie diesen beiden selbst
eine deutlich redende Kehrseite zu zeigen.
Ein unschuldiges Verslein brachte ich auf für die drei
gemeinsam aus- und einziehenden Laienjäger Schacht, Scher und
Duft: Duft, Scher und Schacht – de gahn up de Jagd –
Schacht, Scher und Duft – de scheeten in de Luft –
– Duft, Schacht und Scher – da kamt's all wedder
her.
Auch den Bürgermeister, den schon mein Vater für
parteiisches Verhalten mit einem lebend gebliebenen Wörtlein
gestraft hatte, meinte ich, in der albernen Hochgeschätztheit
allerseits beunruhigen zu müssen, holte weit aus zu einer
geballten und doch scheinbar unbeholfenen, volkstümlichen
Abfertigung in Knüppelversen, fand mich aber erst im Aufflug,
als die Kraft des Vorsatzes schon erlahmt war.
Dann trat Friedrich Düsel, als Primaner zu Besuch bei
Verwandten, auf den Plan, einem jungen Goethe gleich, uns alle
mühelos überstrahlend, siegend durch raschen und regen
Geist und – wie viele meinten – allzu gewagte Betonung
seiner Persönlichkeit – frühreif und sicher im
Umgang mit den respektiertesten Gewalten über uns –, so
trat er daher, ein Anstoß für alle mündigen und
unmündigen Angehörigen der Kaste, denen ein
»Meenert«, d. h. einer, der sich für etwas Besseres
hält und danach aussieht oder sich so gebärdet, ein
gräsiges Exempel von Wichtigmacherei bedeutet. Düsels mit
Mund-Nasenfalte schon bedeutungsvoll gezeichneter Kopf drehte sich
auf zierlichem Bau, auch stieß er bei jedem seiner
wohlgesetzten Schritte einmal mit dem flotten Hute leicht an den
Himmel – und mich zog er mit sicherem Griff an seine
grüne Seite.
Ich horchte auf und merkte flink, daß mir selbst alle Form
fehle. Wir entfesselten einen stürmischen Briefwechsel, duzten
uns überschwenglich und weihten uns gegenseitig in die
aufregenden Zustände unseres Wesens, Lebens und Strebens ein
– und, seltsam zu sagen, die frischweg am ersten besten Platz
gegründete Freundschaft war nicht auf Sand gebaut und kam auch
durch die Zeit nicht zu Fall. Wir schifften, mündlich und
brieflich zu Werke gehend, flott auf die Höhen der Literatur,
schaukelten lustig auf und ab, hegten uns willig in gutmütiger
Gegenseitigkeit, und ich durfte mich, alles in allem,
beglückwünschen zu einer kritischen Vormundschaft, die
mir das Genügen an meinem bisherigen Daherklappern mit Wort
und Reim dergestalt eintränkte, daß ich anfing, meine
beste Lust als Spiel zu beargwöhnen, und überrascht mit
der Nase an die unterste Sprosse einer Leiter stieß, die das
bequeme Schlendern auf platter Erde nicht weiter zuließ.
Freilich blieb ich einstweilen da unten hocken, aber der mir
eingegebene unermeßlich gute Wille, die schicksalhaft mir
gehörige Zähigkeit, eine Art Fluch zum Wollen, dem ich
untertan bin, im Verein mit der Länge der Jahre, nötigten
mich
unerbittlich auf zur zweiten, andern und weiteren Sprosse.
Und so geriet ich unversehens ins achtzehnte Jahr, sollte die
Schule absolvieren und dem Vormund auf die Frage nach der
Berufswahl eine billige Antwort geben. Das Examen berechtigte zur
Fortsetzung des Klassendaseins in der Unterprima einer höheren
Anstalt, und die meisten meiner Vorgänger wurden, wenn sie
direkt zum Beruf übergingen, Tierärzte, Postleute oder
subaltern auf andern Beamtenbahnen. So lief meine
Unentschlossenheit, einem ratlosen Mäuslein gleich, auf
Treppen und Gängen gleich trostloser Möglichkeiten auf
und nieder, ohne daß mir nur von ferne der Gedanke an
Künstlertum gekommen wäre, als sich ein hilfreicher
Zufall an mich machte, mir auf die Schultern klopfte und einen
bündigen Fingerweis gönnte, dessen Richtigkeit allerseits
anerkannt wurde. Der Sohn des Kantors Hempel hatte sein
Zeichentalent an der Hamburger Gewerbeschule mit Erfolg gepflegt,
hier war eine »gewerbliche« Bahn aufgetan, die das
Glücken eines bescheidenen Vorsatzes wahrscheinlich machte.
Der Herr Zeichenlehrer riet zu, der Vormund fand kein unstatthaftes
Zuhochhinaus zu bemängeln, ich folgte fast mehr dem Willen der
andern als dem eigenen, die kindliche Welt wurde hinter mir
abgeriegelt.
Ich beiße an
Hatte ich eigentlich Talent? Mein erster Zeichenlehrer in
Hamburg war ein regelrechter Original-Germane, Herr Woldemar, der
Däne, Schüler Thorwaldsens, wie es hieß, ein
zelotischer Herr, den sein Zorn in heftig hinschießender Fahrt
erhielt, ein gewohnheitsmäßiger Zorn. Selbst wenn das
Zetern einmal aussetzte, schien das abgeschnürte Pfauchen sich
im Unterkiefer zu verkrampfen, und der dranhängende Beberbart
kochte dazu. Immer war Woldemar bereit, sich in Berserkerei zu
stürzen, immer bereit, zu erschlagen und zu steinigen. Ein
Machtbold, der in Furcht und Zittern des Gesindes die
Bestätigung seines Wertes sah. Er riet mir beim ersten Blick
auf mein Zeichenbrett in der ersten Stunde, nur gleich meine
Mühe einzustellen, ich würde niemals was Rechtes
zustandebringen – schnaufte noch was Höhnisches aus den
Naslöchern dazu und kehrte sich ab.
Aber ich folgte nicht, sondern erzwang in einem langen Kampfe
seinen endlichen, herzlich widerwilligen Beifall. Nein, es war wohl
kein Talent, was da in mir stak. Ein aussichtsarmer Gehorsam rieb
sich auf in blindem Tun, und ich konnte nicht folgen, nicht, weil
ich mir gesagt hätte, daß man Herrn Woldemar als einem
geringen Gott keinen Gehorsam schuldig sei, sondern weil solches
Folgen, verbissen, wie ich mich hatte, schon sehr bald nicht mehr
zur Wahl stand.
Ich war in eine Zeit geraten, die für mich kein
förderndes Beispiel übrig hatte, es war wohl wirklich
Erbieten und Erwarten zwischen uns unnötig; ohne es zu ahnen,
stand ich nackt und bloß in einer ungeheuren Einöde und
konnte selbst zusehen, wie ichs treiben würde, stand und hatte
kein Arg oder Scheu, versah mich keiner Probleme und zog,
schneckengleich wohnend im kleinen Kämmerchen des willenlosen
Gehorsams, unbewußt des Weges zum unbekannten Ziel.
Wie in Ratzeburg so empfingen mich in Hamburg Hans Hudemann und
Vetter Richard, beflissen, mir die Fertigkeit in allen
Lebenskünsten beizubringen, die sie inzwischen mit Hilfe von
Eifer und guter Veranlagung gewonnen hatten. Die frühere
Parole vom Leben im wilden Wald war zur Unkenntlichkeit
verändert, sie beide hatten alle Wege zur gehörigen
festlichen Gestaltung ihres Daseins gut markiert vorgefunden und
hatten sie ohne Wank und Schwank betreten und betrampelt.
Richard hielt schon lange standhaft dicht vor dem Abitur und
harrte in dieser Stellung weiter aus, ohne jemals anders als
vergeblich anzuklopfen. Hudemann hatte es schneller sattbekommen,
jetzt lernte er bei Cesar Wehrhahn Export. Selten sind herrliche
Gaben so verludert wie in ihm, so voll Sonderlingsgeist war er,
daß des Drangs scheinbar nur mit dem wüstesten Schleifen
und Schlampen durch die für einen Wechsel von hundert Mark
käuflichen Ablenkungen Herr zu werden war.
Ich als dritter war kein Spielverderber, sie melkten meinen
mageren Wechsel mit dem Erfolg, daß ich eine besondere Art
Lebenskunst zu meistern lernte, durch die sich das Leben
gegenüber dem natürlichen durch Essen und Trinken zu
einem Kunststück ohne dergleichen Regelmäßigkeiten
erhöhte.
Eines Sonntagabends am Ersten des Monats brachen wir
gutgetränkt aus der »Elbschlucht« auf, Hudemann mit
seinen annähernd vollen hundert Mark in der Tasche zum Sturm
gewillt auf das dunstige Hamburg, das da wie ein wehrloses Opfer
vor ihm lag. Wir wohnten damals zusammen in zwei Zimmern, und mir
bangte – mein ehrliches Interesse an seinen Goldstücken
war nicht grundlos. Hudemann durchtanzte, die Zeigefinger wie
Bockshörnchen vor der Stirn, die Reihen der Altonaer
Bürgertöchter. Ich witterte Unheil und wurde hart,
stellte ihn und pochte auf meine treue Bereitwilligkeit zum
Aushelfen und erweichte ihn zum ausgleichenden Auftun seines
Säckels, entlockte ihm fast das ganze Geld, nahm ihm obendrein
behutsam die Uhr ab und ließ ihn dann einigermaßen
getrost auf die Pferdebahn entspringen. Frühmorgens, heftig
ernüchtert heimkehrend, fand er seine Bescherung auf der
Kommode vor, nachdem er wegen des Verlustes von Uhr und Barschaft
bereits auf der Polizei Lärm gemacht hatte.
Es war das Jahr des Unheils 1888, ich trieb mich, wo mir eine
Freistunde verstattet war, in den windigen Straßen herum und
sog in der wesenlosen Geschäftigkeit auf der Schule ohne
Trost, Lust erfahrend nur bei Nacht, in Heimatsträumen mit
Fieber und Schmerzen nicht ohne geheime Zufriedenheit
unglücklich, eine Brustkrankheit aus dem kalten Frühjahr,
lag bei meiner Mutter, die mit den Brüdern nach Lübeck
gezogen war, lange krank, lernte von frischem gehen und ließ
mich in ein Hospiz oder Internat für junge Leute an die
Nordsee verschicken.
War ich lendenlahm eingeliefert, stach mich doch bald der Hafer,
und ich fühlte mich hier als das übermütigste
Füllen von allen.
Salomo Friedländer war mein philosophischer Tischnachbar
linker Hand, auch ihm war es nicht erspart, freilich in knappem
Schwung, mit gezügelter Vehemenz, im Vers das Aufblühen
der eigenen Seele zu feiern, und so kam er zuweilen in sakraler
Gebundenheit der Schritte auf mein Zimmer und las vom Blatt, was
ihm gewiß vom Herzen geströmt war. Das konnte ich nicht
unerwidert lassen und las meinerseits vom Blatt, das sich mit
andern zu einem Busch von Blättern bauschte, was auch mir,
aber massenhaft, vom Herzen geströmt war. »Herr
Barlach«, sagte dann wohl in liebenswürdiger
Neidlosigkeit Saly Friedländer, »ich erkenne, daß
Sie viel mehr dichten als ich«, was ich arglos als Kompliment
aufnahm.
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