Mein Tischnachbar rechts war ein schwerkranker Bengel von erstaunlicher Superklugheit, ein unbeliebter Fresser und zugleich mein Zimmergenosse, der mit den Dünsten seines Gebrechens die Luft säuerte, und dabei zu meiner Qual ein Widersacher offenstehender Fensterflügel. Ich fühlte mich unschuldig an der Tatsache, daß er vor meinen Augen als fertige Karikatur hinging, und so begann ich eine tagtäglich zeichnerische Preisgabe seiner Schwächen als starker Esser, als wandelnde Selbstzufriedenheit, als unpassende Erscheinung überall, im Haus, am Strand und auf der Düne. Die Karikierung eines Geschlagenen läßt sich mit jugendlicher Roheit schlecht beschönigen, vielleicht entschuldigt man aber einen versucherischen Streich, der mich und den Chor der Teilnehmer ganz gut als die Beschämten hätte erweisen können. Ich schlich mich, nachdem ich die Nacht auf einem fremden Zimmer zugebracht hatte, bei Morgengrauen ins Gemach, verbarg mit aufgemachter Verstohlenheit zusammengeliehenes Goldgeld und ließ am Frühstückstisch aussprengen, die Post sei in der Nacht bestohlen, und der Angeber könne fünfzig Mark verdienen. Eigenbrod roch einen Braten, folgerte, daß ich der Dieb sei, und fühlte keine Hemmung seines Entschlusses, sich die fünfzig Mark durch meine Fällung zu verschaffen. Es wurde dann eine Art Verhör angestellt, das Geld im Tabakskasten entdeckt, und dann gings zum Mittagessen, wo ich die Rolle des Gefallenen und Gemiedenen zu spielen hatte, während die andern als Gott dankende Pharisäer auftrumpften. Eigenbrod fand auf seinem Teller einen Zettel von meiner Hand mit der Drohung: »Ich schneide Ihnen die Kehle ab, wenn Sie mich anzeigen.« Der Zettel wurde von ihm als Beweisstück deponiert, und so ging die heitere Tafelei bis zum Ende, wo ich denn an den Messerkorb ging und mit Blutdurst im Blick zwei Bratenmesser aneinander zu schleifen begann, bei welchem Anblick Eigenbrod zusammenbrach und aufgeklärt wurde.

In diesen Monaten gerann in meinem Bewußtsein so etwas wie die Vorstellung, daß man sich für ein Einziges und Wichtigstes bestimmen müsse. Vor meiner Erkrankung hatte ich bei dem Dresdner Bildhauer Thiele, der seit kurzem an der Schule lehrte, einige Abende in der Woche belegt. Thiele, der keine Tagesschüler hatte, suchte sich, wo er immer konnte, den Lernkörper seiner Klasse, dessen er zu endgültiger Anstellung bedurfte, zusammen und machte zwischen vorhandenem und mangelndem Talent keinen peinlichen Unterschied. Wie andern pflanzte er auch mir guten Glauben an bildhauerische Berufung ein, und mit dieser Einsicht machte ich meinen Onkel bekannt, der sich meinem Wunsche fügte. Als ich im Herbst von neuem die Schule bezog, war ich angehender Bildhauer, ohne daß ich darum der Woldemarschen Zeichenzucht entwichen wäre.

Unter den Schicksalsgenossen fand sich Garbers, der vom Graveur »zur Bildhauerei« übergegangen war, gereift und erfahrener als wir andern. Er hatte sich in der Fremde umgetan und aus einem vielfach geschichteten Leben durch eigenes Erproben Wissen und Begriffe gebildet. Der feinere Cornils stand auf langen, nicht sehr festen Beinen – und desgleichen war die Beschaffenheit seines geistigen Habitus, nobel proportioniert, doch mit Schüchternheit durchwachsen, letzter Nazarener und allerletzter, antiquierter Romantiker, leicht verrannt und doch kein Draufgänger. Da war der junge Mutz, in der knochentrockenen Töpferwerkstatt seines Vaters schmal und blaß geworden, der ahnungslose und ungestempelte »Westphal mit de Venusbeen«, der bravouröse Fixmacher und Hinschmeißer von Modellierarbeit »Fwanz« Ziegler und sein Vetter »Fwanz«, dessen stärkste Eigentümlichkeit in der absoluten Belanglosigkeit bestand – da waren zwei auswärtige Holzbildhauergesellen, und da war Ramme, der sich zum Nachfolger in der väterlichen Pappmachefabrik ausbildete. Ich – wie Garbers proklamierte – qualifizierte mich durchaus als kulturlos, ich röche »nach Bauer«, entschied er.

Wir kopierten nach Gips. Dazu, weil uns der Dyffkesche Aktsaal nicht offenstand, organisierten wir den »Aktverein«, wo wir zweimal wöchentlich in einem Eilbecker Vorstadtsaal Akte zeichneten, hinterher Bier tranken und so etwas wie ein Künstlerleben in unsicherer Nachahmung unklarer Vorbilder ins Werk setzten. Indes blieb die Arbeit Hauptsache – Aktzeichnen, ich muß bekennen, daß ich nie einen einzigen leidlichen Akt zustandegebracht habe, es ergaben sich aus meinem heißen Streben nichts als ausgezogene Männekens und entfederte Gänslein.

Auch durfte, wer wollte, nach Belieben komponieren. Wenigstens ließ sich Herr Thiele die Vorlage von Blättern eigener Erfindung gern gefallen, ja er hielt sogar das Streben nach selbständiger Darstellung nicht nur nicht für schädlich, sondern für entschieden wünschenswert. Ich, kaum dessen inne, biß an und suchte mein Heil in wütendem Beweisen grenzenlosen Wollens. Ich lernte ein halbes Hundert Cornelius'scher Faltensysteme auswendig und warf bald mit approbierten Gewandfiguren nur so um mich. Thiele lobte, und ich kostümierte hemmungslos gangbare Begebenheiten und kunstgeschichtlich herkömmliche Szenen nach einem geläufigen Schema.

Wie man aber auch den Kopf über so massives Irren schütteln mag, so vollzog ich doch mit diesem Tun den Anschluß an ehrwürdige Größe. Gleichsam körperlich schien ich mich unter hohe Gestalten zu mengen und war beglückt über die Schatten, die von ihnen auf mich fielen. Meine Hände liefen beweglich dem erhabenen Gefüge einfältiger und grandioser Herrlichkeit nach, meine Seele verlor sich in Glut und Licht, das mich aufsog und entselbste. Ich hatte schon als Kind das Glück des Einklangs in überpersönliches Sein geahnt, und kein Widerstreben hinderte mich in dem ehrlichen Genügen beim Angleichen an das ehemals und noch jetzt anscheinend Vollkommene.

Das ging wohl eine Weile gut so, aber dann ward ich abgestoßen und verworfen. Womit konnte ich den Anspruch auf Teilnahme an Verklärtheit begründen, da ich nichts beitrug, sondern nur empfing, wo nicht raubte? Unlust und peinigender Mangel an Trost ward mein Teil, und ich mußte mich bequemen, wenn auch nichts als ich, so doch immerhin ich selbst zu sein. So begann ich das Gold meiner Zufriedenheit in der zeitlichen Wirklichkeit auf der Straße zu suchen.

Da liefen Menschen zu Tausenden hin und her – und ich griff, in den Überfluß der Erscheinung gestürzt, hastig und unermüdlich bis zur Abstumpfung in die rechte Tasche zum Bleistift und mit gleichem Takt in die linke zum Büchlein, und dann gab es ein paar Linien und allermeist ein trauriges Ganzes oder ein schäbiges Flickwerk. – Es mußte, es mußte, es mußte sein, aber welches Ende winkte diesem Beginn? Das Ding, das ich mit trauervoller Gezwungenheit gewissermaßen als Sträfling trieb, war der Trauer und der Verbissenheit offenbar nicht wert, und doch kam kein Zweifel in mich, und nichts desgleichen Wichtiges gab es zu tun. Ich staunte über die Seltsamkeit der Tatsache Mensch und erbrach mich gleichzeitig über den Unsinn eines solchen Seins. Ich schämte mich dieser hündischen Zeitgestalt, als wäre es mein Werk, und selbst in der Gestilltheit, die mich tröstete, wenn ich mir vor meinen Blättern wachsendes Können gestehen durfte, spürte ich den panischen Schrecken vor einem so beschaffenen Dasein. Ich hatte Zeiten, wo die Versicherung des einstmaligen Gestorbenseins in überströmende Dankbarkeit wie für eine Gnade ausmündete. In voller Lauterkeit wandelte ich auf dem Pfade eines kreuzbraven Pietismus. Da war, wenn nun die Panik abließ, Problemlosigkeit, und da war eine nahrhafte tägliche Saugflasche voll Gläubigkeit, die einstmals, wenn die Zeit erfüllt war, im Gefühl der grundlosen, todsichern, selbstverständlichen Überzeugtheit vom Sinn des Seins als freudiger Gewißheit eines über menschliche Ermeßbarkeit Guten ausgehen mußte.

Man könnte sagen, daß das, was mich bei meinem Streben dennoch quälte, das unbewußte Wissen vom Einssein mit allem Menschwesen und der Unentrinnbarkeit vor dem mit ihm verketteten Fluch gewesen wäre. Aber das soll so sein, oder mag es nicht, gleichviel.

Hähnel in Dresden, Thieles Meister, lebte damals noch, und Schüler seines Ateliers zu werden, war Heilsmöglichkeit weit über alle anderen für unser Häuflein, das seiner Urteilslosigkeit unbewußt war.