In Hähnels Atelier
sahen wir den Paß zur wohlgeordneten und zweifellos
erfolgreichen Talentübung, bei Hähnel war die einzig
rechte Schule, da winkte der Gewinn der höchsten
Vortrefflichkeit, so altklug überzeugten wir einer den andern
von der Bekömmlichkeit einer Wahrheit, die ihm selbst
gewaltsam eingelöffelt war.
Krautpflückerin (Rübensammlerin),
getönter Gips, 1894
51 X 53 X 30 cm
1898 als erstes Werk Barlachs auf der Großen Berliner
Kunstausstellung unter dem Titel »Arbeit«
Sigrid Genzken-Dragendorff, München
Mich nannten sie etwas mitleidig den Genrebildhauer, weil ich
nun begonnen hatte, die auf der Straße errafften
Alltäglichkeiten für knetbar und plastisch darstellbar zu
halten. Hier fand Thiele »ä Haifchen« und dort
wieder »ä Haifchen«, faustgroße oder noch
kleinere Manifestationen in Ton, die ich und mit mir ein armer Kerl
aus der verdumpftesten Hamburger Kleinbürgerlichkeit in den
Winkeln der Klasse verstreuten. Diese »Haifchen«
vermehrten sich kaninchenartig und scheuten mit Recht das Licht
– unsäglich verschämte Keimversuche eines Wachstums
auf keinem andern als dem eigenen Grund, von dem bedürftigsten
Vermögen gefördert. Bei dem allen ließ ich der
»klassischen« Herrlichkeit ihren Preis, es stand durchaus
so, daß sie ihrerseits nichts mit mir zu tun haben wollte,
daß sie mir keinen Teil an sich gönnte und mir die
Unzugehörigkeit mit schnaubendem Woldemarschen Hohn
schonungslos dartat. Seltsam war nur dieses leichte Zucken der Lust
im Herzen, das allemal kam, wenn meiner Armut ein
Fündlein gelang, wenn die erbärmlich ratlose Jugend eine
Witterung bekam von dem selbstverständlichen Wege, auf dem in
nichts ein Verlaß war und der wohl in Wirklichkeit von dem
anmaßlichsten Belieben gesucht wurde. Auftrumpfen gegen jede
Leitung und gleichzeitige Demut alles Mühens war der Mist, auf
dem ein jungdreistes, sonderbares Gewächs entstand.
Die Schar derer, die nun in Ton und Gips allerlei
Figürliches schulgerecht vollbracht hatten, war im Laufe der
drei Jahre zerbröckelt und von Thiele dirigiert in der
Windrichtung des Hähnelschen Ateliers verflogen. Ich als
letzter wurde nachgezogen, ohne daß ich eines bestimmten
Zieles inne gewesen wäre.
In Dresden erwarteten mich mit andern Garbers und Cornils als
Geleit durch die Pforten des akademischen Lebens. Beide hatten
Samtjacken angelegt und stampften mit Ebenholzknüppeln auf den
klassischen Boden, Garbers bereits als Meisterschüler im
Hähnelschen Atelier, scharf auslugend nach Aufträgen
für den Neubau des Hamburger Rathauses.
Als ich kaum ein Vierteljahr in der Unterklasse gezeichnet
hatte, starb Hähnel und das ganze Hamburger Korps hatte die
kümmerliche Genugtuung, ihn zu Grabe zu geleiten.
Ich gehöre zween Meistern
Das Leben meiner Mutter hatte schon lange keinen selbstigen
Gehalt mehr. Die, denen sie das Leben gegeben, mußten ihr den
Sinn fürs Dasein schaffen, so verlegte sie ihre
Häuslichkeit dahin, wo ihre Söhne zur Ausbildung im Beruf
für kurze Zeit lebten, und so vollzog sie den zehnten Umzug
seit ihrer Heirat, um mit mir in Dresden hauszuhalten. Es geriet
uns beiden zu Unbehagen. Der Glaube an ein leise lächelndes
Glück im Winkel bestimmter Art, und zwar einzig von ihrer
opfernden Mütterlichkeit bestimmt, wurde wieder
getäuscht, der abermalige Aufflug ihres Vertrauens versagte,
und in kurzem rumpelte der Möbelwagen zum elften Male
mit dem reduzierten Hausrat davon.
Ich fand als Meisterschüler meinen Platz bei Hähnels
Amtserben Robert Diez – Diez, der es mit dem genau nahm, was
die Verwalter des so geheißenen Idealismus Plunder und Unwesen
am Bau des Doms schalten, an dem wir alle uns beim Werk glaubten
– der mit dem Finger auf das kaum Merkliche im Verhalten der
Natur hinwies und mit dem Nagel das Dürre und Fette, das
Weiche und Halbharte, das Versteckte und Verstohlene am studierten
Modell beklopfte und umzirkelte, der immer eifrig die Kulturen
seiner Schüler nach den verzagtesten Keimen von Eigenart
absuchte und Hebammendienste bei jedem ehrlichen Vorhaben unserer
Unreife leistete. Mir gönnte er manches väterlich
ermunternde Wort, weniger vor den Atelierleistungen als beim
Durchblättern der Büchlein mit den Beweisen meines
Privatfleißes auf der Straße, in der Kneipe, mit den
Zeugnissen meiner Besessenheit, aus allen Zwischensituationen und
den ungebräuchlichsten Blickwinkeln Darstellbares, wenn es
nicht anders ging, zu erpressen.
Der junge Begas dilettierte hier und betrieb mit dem
dämonischen, bis zur Ableugnung jedes überlieferten
Wertes ungebundenen Hösel eine unterhaltsame Zwietracht, bei
der es sogar zur Explosion von Miniaturpulverfässern kam.
Hösel war ein waschechtes Genie, das einzige von uns allen.
Er baute einen »Neger mit Hund« im Umsehen
lebensgroß so schlagend auf, daß Diez jedes kritische
Wort schuldig blieb. Er entledigte sich vorsätzlich all und
jeder Unnatürlichkeit, wie sie uns armen Zeitgenossen als
fluchvolles Erbe von Jahrtausenden eingeboren war, er ließ
fast alles fahren, was er nicht selbst und persönlich
urerzeugt hatte, und seine Jahre goren beispielhaft – wir
andern konnten, bei solchem Vorbild, manches Experiment sparen.
Garbers litt es nicht lange im Atelier des neuen Meisters
Schilling, er fingerte zäh und gewandt an seiner
Selbständigkeit durch Aufträge aus Hamburg. Ich lernte
unter seiner Anleitung ehrbar zechen, einen Trunk tun, ohne die
Besinnung zu verlieren, saß am Tisch bei seinen
älteren, gleichfalls selbständigen Skat- und
Schachbrüdern und ließ mich ins Vertrauen manches
Ungemachs ziehen, das den Menschen in der Jugend begegnen kann.
Auch erkannte ich vielerlei als kühn, glanzvoll und
höchst erwünscht Verschrienes als nur zu gewöhnlich
– bis das Ungewöhnliche selbst dicht an mich
heranrückte.
Ich litt an Herzbeschwerden und ward Patient bei Dr. Klencke.
Klencke riet mir Mäßigkeit an, empfahl mir aber
keineswegs Enthaltung von seinem Umgang, und so war ich zugleich
mit heilsamen Vorschriften wohlversehen und in Kreisen zugelassen,
wo es am wenigsten auf Beobachtung solcher Regeln ankam. Wenn
Klencke das groteske Falstaffsche Koller ablegte, stand er als Jean
Paulsche Figur da; von Form eines gedrungenen Eichenfasses, von
bärenstarker Gesundheit erblühte sein Wesen doch in
possierlichster und zartester Anmut oder feierte das Glück
seiner Schwere und seiner Kraft, wenn der Strudel um und in ihm
ebbte, wenn die Stille des Waldhäuschens auf der Loschwitzer
Bergkrone sich wie ein weicher Mantel um ihn legte, wenn er
verschnaufte und mit dem brüderlichen Gott redete, der weit
und wild und weich war wie er selbst, der sich in Schnee-, Regen-
und Donnerwetter, in Mondnächten und tauigen Sonnenmorgen
offenbarte. Ich war ihm bequem als allen romantischen Situationen
gerecht werdender Waldbruder, Dortchen Lakenreißer und ihre
zahlreichen Geschwister als Helferinnen zuzeiten, da kein anderer
Trost als aus weiblichen Händen ihm anstand. Eigentliche
Orgien hat es aber da oben nie gegeben, die gesunde
Nüchternheit kleinbürgerlicher Herkunft, so etwas wie
Luthersche Biederkeit, verhängte selbst über die
ausgelassenste Nachtspäte eine solche Reinlichkeit, daß
man leicht denken konnte, es handle sich bei den
Zusammenkünften im verschneiten Berghäuschen um
Geheimbündelei oder Sektiererei, der Geistmensch Klencke
bewies eine unbetonte Würde auch da, wo kein Späher nach
allzu menschlichen Episoden zu befürchten war.
Oft war ich tagelang allein im Gehege, leerte die Vorratskammer
und
schlenderte in der Geborgenheit ihres unmerklichen Wandelns durch
die Zeit. Auch griff ich zum Pinsel und befleckte die Wände
der oberen Gelasse mit Malwerk – wildes Grau donnerte
über die Flächen, und Phantastik wetterte durchhin. Meine
Verschwärmtheit kreißte, und Ausgeburten aus Nacht und
dickgebrauter Dämmerung krochen fledermausflügelig
zutage. Heftig ausfallendes Selbstgefühl trieb
Absonderlichkeiten in Tracht und Gewohnheit hervor – Meister
Diez' Brillengläser wollten springen, wenn ich mich auch vor
ihm nach Bedürfnis meines Überschwangs regte, so staunte
es hinter ihnen, denn die Diezsche Seele hätte, behauptete
Klencke, mit chronischer Verstopfung zu tun, und ihr fehle nur ein
tägliches Glasscherbelklistier von Klenckescher
Zurichtung.
Die romantische Weihnacht, wo der Berg sich im Geläut des
Dresdener Tals mit uns gewiegt, wo ich den dicken Dichter
Stegemann, den Klencke zum Wagnis eines Heiligabends in
Schnee-Einsamkeit beredet, zu Bett brachte, indem ich ihm mit den
Stiefeln fast die geschwollenen Beine entriß, war verklungen.
Garbers hatte sich den Zauber in kluger Gelassenheit angesehen und
ganz und gar bewiesen, daß in seiner Seele kein Zunder war, in
dem Stimmungsfunken zündeten, auch nicht, als Klencke beim
Abstieg am ersten Feierabend durch den Ziegengrund über das
Tal, in das der Sternhimmel nicht ein Meer, wohl aber einen
Weihnachtssack voll von Funken gestreut zu haben schien, Wanderers
Nachtlied: »Der du von dem Himmel bist ...« hinsprach wie
einen Segen, dessen er selbst sich in der Sehnsucht seines Ich
bedürftig fühlen mochte. Seine Stimme war
»mächtig und gelind« und reichte hin über alle
Weite – er hatte seine beste Zeit gehabt, die Zeit des
Werdens, Ringens und Hoffens. Als erstes, beim Kennenlernen, hatte
er mir gesagt: »Ihr Künstler seid die einzigen, die sich
ihrer Sache opfern, ohne sie durch Zwecke zu schänden.«
– Als er hoch stieg, reich wurde, Bergbesitzer, Pascha und
»Oberarzt« aus eigener Macht, wurde auch seine Rede
anders. Als letztes, aus der Geilheit seines überwuchernden
Glücks, bekam ich diesen Segen: »Wenn Sie die
dämelige Kunst nicht aufgeben, werden Sie auf dem Misthaufen
verrecken.«
Das Atelier Diez vollbrachte an mir kein Wunder. Ich modellierte
für mich hin, und was ich im Sinn hatte, wußte ich nicht.
Einst kam Reinhold Begas, um sich an den Fortschritten seines
Sohnes zu erfreuen, und ging mit kühler Großartigkeit
durch die Reihen unserer Werke, stand auch bei mir ein halbes
Minütlein still und faßte ein handgroßes Stück
Ton ins Auge, an dem ich gerade herumdrückte und das mir
selbst ganz im Gedächtnis zunichte geschwunden ist. Er aber
hatte darin etwas gespürt, und als ich 1900 einen Besuch in
seinem Berliner Atelier machte, erinnerte er sich der
»Bergspitze«, einer in Flächen geschnittenen
Fügung, eines Kubus, von dem ich selbst nur wissen konnte,
daß so was höchstens als beiläufiges Füllsel
zwischen ernsten Arbeiten galt.
Mit der Gestaltung einer niedergebogenen Krautpflückerin,
die ich in Friedrichroda, wo nun meine Mutter wohnte, gesehen,
beschloß ich die Studien.
Garbers hatte in Dresden einige große, aus Hähnelscher
Schule kommende, recht frische Fassadenfiguren für das
Hamburger Rathaus geliefert, man witterte eine ins Ragen kommende
Hoffnung in ihm und schob ihm ein Stipendium nach Paris in die
Tasche. Ich spürte bei dieser Nachricht Morgenluft und sah im
Teilhaben an seinem Unternehmen die wohlgetroffenste Verwendung
für die Reste meines väterlichen Erbes. Diez riet
dringend zu, und im Mai 1895 machten wir uns davon.
Wohin treibt der Kahn?
Als wir sahen, daß es Ernst wurde mit dem Ankommen in
Paris, zogen wir unsere bereitgehaltenen Glaces an und meinten
nicht anders, als sie erst beim Verlassen der Stadt wieder
abstreifen zu dürfen. Wir hatten uns arg vertan, aber
Fremdheit schlug uns doch entgegen und machte unsern Atem kurz.
Hierin ungleich meiner Mutter, der das Abbrechen der Zelte
jederzeit so leicht wurde wie das Aufstellen, fühle ich an
fast jedem neuen Ort Wurzeln wachsen, deren Abreißen weh tut,
so geschah es auch mit Paris.
Taschenbuchblatt aus Paris,
Bleistiftzeichnung, aquarelliert, 1895
Wir blieben zunächst gemeinsam in einem kleinen deutschen
Hotel der Rue de la Bastille beim braven Bofinger aus Schwaben. Der
Maler Schenck in Ecouen, wenn man so wollte, eine Art von Onkel zu
mir, ein Mann in guten Jahren, Besitzer eines geräumigen
Weinkellers und in bequemen Umständen, hielt mich offenbar
für einen rotznäsigen Anfänger und versorgte meine
»Unbedarftheit«, wie er als Holsteiner die gelegentliche
Zutäppischkeit meines Wesens auslegte, bedürftig einer
nur in Paris durchführbaren Dressur, indem er mich an seinen
Freund Julien empfahl – und kurz und gut, ich zeichnete
einige Wochen oder gar Monate auf der Akademie Julien Akte,
schlechte, langweilige Richtigkeiten, Zustände einer
schlechten, langweiligen Kleiderlosigkeit bei männlichen und
weiblichen Darbietern von so viel Mangel an Trost, daß ich
nicht einsehen konnte, weshalb man sich eigentlich mühe
– ich, dem beim Gang über die Straßen der Bleistift
in der Hand vor Ungeduld zu tanzen begann.
Garbers schonte seine Hosen gleichfalls nicht, aber es geschah
an einer Zweigstelle desselben Instituts.
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