Eine Geschichte aus zwei Städten
Als der Franzose Charles Manette in Paris von den Revolutionären zum Tod verurteilt wird, rettet ihm der junge englische Anwalt Sydney das Leben, indem er freiwillig das Schafott besteigt. Er opfert sich aus Liebe – zu der unerreichbaren Lucy Manette, der Frau des Verurteilten.
Schauplatz des Romans sind die zwei Städte Paris und London während der Französischen Revolution. Vor diesem historischen Hintergrund fügen sich in einem spannungsreichen Geschehen die auf seltsame Weise miteinander verflochtenen Schicksale einer kleinen Menschengruppe ineinander: Angehörige einer Familie des französischen Hochadels, eines Arztes und eines Londoner Rechtsanwalts.
Ein bewegender Roman über eine unerfüllte Liebe bis in den Tod.
Charles Dickens wurde am 7. Februar 1812 in Landport, England geboren. In ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, arbeitete er später bei einem Rechtsanwalt und als Journalist. Mit Sketches by Boz (1836) und The Pickwick Papers (1837) wurde er einer der bekanntesten Autoren Englands. 1837 erschien sein erster Roman, Oliver Twist. Neben der Schriftstellerei verdiente er sich sein Geld mit Lese- und Vortragsreisen in England und den USA. Charles Dickens starb am 9. Juni 1870 in Kent.
Von ihm sind im insel taschenbuch u.a. erschienen: Die Weihnachten des Mr. Scrooge (it 4062), Oliver Twist (it 4077), Große Erwartungen (it 4078) und Der Raritätenladen (it 4080).
Charles Dickens
EINE GESCHICHTE AUS
ZWEI STÄDTEN
INSEL VERLAG
eBook Insel Verlag Berlin 2011
© dieser Ausgabe Insel Verlag Berlin 2011
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Umschlag: bürosüd, München
Umschlagfoto: plainpicture/Arcangel/Daniele Lombard
Satz: Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn
eISBN 978-3-458-76120-4
www.insel-verlag.de
Inhalt
Erstes Buch
Ins Leben zurückgerufen
Erstes Kapitel: Damals
Zweites Kapitel: Der Postwagen
Drittes Kapitel: Nächtliche Schatten
Viertes Kapitel: Die Vorbereitung
Fünftes Kapitel: Die Weinschenke
Sechstes Kapitel: Der Schuhmacher
Zweites Buch
Der goldene Faden
Erstes Kapitel: Fünf Jahre später
Zweites Kapitel: Ein Schauspiel
Drittes Kapitel: Eine Enttäuschung
Viertes Kapitel: Glückwünsche
Fünftes Kapitel: Der Schakal
Sechstes Kapitel: Hunderte von Leuten
Siebentes Kapitel: Der Herr Marquis in der Stadt
Achtes Kapitel: Der Herr Marquis auf dem Lande
Neuntes Kapitel: Das Medusenhaupt
Zehntes Kapitel: Zwei Versprechen
Elftes Kapitel: Ein Gegenstück
Zwölftes Kapitel: Der Mann von Zartgefühl
Dreizehntes Kapitel: Der Mann ohne Zartgefühl
Vierzehntes Kapitel: Der ehrliche Geschäftsmann
Fünfzehntes Kapitel: Ein Strickzeug
Sechzehntes Kapitel: Es wird weitergestrickt
Siebzehntes Kapitel: Eine Nacht
Achtzehntes Kapitel: Neun Tage
Neunzehntes Kapitel: Ein ärztliches Gutachten
Zwanzigstes Kapitel: Eine Bitte
Einundzwanzigstes Kapitel: Widerhallende Schritte
Zweiundzwanzigstes Kapitel: Immer höhere See
Dreiundzwanzigstes Kapitel: Feuer
Vierundzwanzigstes Kapitel: An den Magnetfelsen getrieben
Drittes Buch
Ein Unwetter nimmt seinen Lauf
Erstes Kapitel: In Einzelhaft
Zweites Kapitel: Der Schleifstein
Drittes Kapitel: Der Schatten
Viertes Kapitel: Windstille im Sturm
Fünftes Kapitel: Der Holzhacker
Sechstes Kapitel: Triumph
Siebentes Kapitel: Man pocht an die Tür
Achtes Kapitel: Eine Handvoll Karten
Neuntes Kapitel: Das Spiel ist gemacht
Zehntes Kapitel: Ein Schatten steht auf
Elftes Kapitel: Dämmerung
Zwölftes Kapitel: Dunkelheit
Dreizehntes Kapitel: Zweiundfünfzig
Vierzehntes Kapitel: Ausgestrickt
Fünfzehntes Kapitel: Die Schritte verhallen für immer
Erstes Buch
Ins Leben zurückgerufen
Erstes Kapitel
Damals
Es war die beste und die schlimmste Zeit, ein Jahrhundert der Weisheit und des Unsinns, eine Epoche des Glaubens und des Unglaubens, eine Periode des Lichts und der Finsternis: es war der Frühling der Hoffnung und der Winter der Verzweiflung; wir hatten alles, wir hatten nichts vor uns; wir steuerten alle unmittelbar dem Himmel zu und auch alle unmittelbar in die entgegengesetzte Richtung – mit einem Wort, diese Zeit war der unsrigen so ähnlich, daß ihre geräuschvollsten Vertreter im guten wie im bösen nur den Superlativ auf sie angewendet wissen wollten.
Auf dem Thron von England saß damals ein König mit einem großen Mund und eine Königin mit einem glatten Gesicht; den von Frankreich zierte ein Herrscherpaar mit ganz denselben Eigenschaften. Und in beiden Ländern erschien es allen mächtigen Herren und Grundbesitzern klarer als Kristall, daß im allgemeinen der Stand der Dinge geordnet sei für alle Zeiten.
Es war im Jahre des Herrn eintausendsiebenhundertfünfundsiebzig. England erfreute sich damals wie noch heute der Gnade übersinnlicher Offenbarungen. Mrs. Southcott hatte eben ihren gebenedeiten fünfundzwanzigsten Geburtstag gefeiert, auf dessen bedeutsames Herannahen ein prophetischer Leibgardist die Welt durch die Ankündigung hingewiesen hatte, man möge sich darauf gefaßt machen, daß London und Westminster von der Erde verschlungen würden. Sogar das Hahnengassengespenst war erst seit einem Dutzend Jährchen zur Ruhe gebracht, nachdem es seine Botschaften in derselben Weise, wie seine übernatürlich unoriginellen Nachfolger erst im letzten Jahre noch getan haben, durch Klopfen kundgegeben hatte. Botschaften im wirklichen Sinn des Wortes waren jüngst der englischen Krone und Nation von einem Kongreß britischer Untertanen in Amerika zugegangen; sie haben seltsamerweise einen weit wichtigeren Einfluß auf das menschliche Geschlecht ausgeübt als alle Mitteilungen, die seitdem von der Sippe der Hahnengassengeister hervorgegackert worden sind.
Mit Frankreich, das, was übersinnliche Dinge betrifft, im ganzen weit weniger begünstigt als sein Schwesterland mit dem Schild und dem Dreizack, ging es ungemein glatt und schnell bergab, indem es Papiergeld machte und es vertat. Unter der Führung seiner christlichen Hirten vergnügte es sich nebenbei mit allerlei menschenfreundlichen Heldentaten, indem es zum Beispiel über einen jungen Menschen, der bei strömendem Regen zu Ehren einer fünfzig oder sechzig Schritt vor ihm vorübergehenden Mönchsprozession nicht in den Kot knien wollte, sein Urteil dahin aussprach, daß man ihm die Hände abhauen, die Zunge herausreißen und seinen noch lebenden Leib verbrennen solle. Wohl möglich, daß um die Zeit, in der dieser arme Unglückliche seinen grausamen Tod erlitt, der Holzhauer Schicksal in den Wäldern Frankreichs oder Norwegens bereits die Bäume zum Fällen und für die Sägemühle bezeichnet hatte, deren Bretter zur Herstellung eines in der Geschichte mit Schrecken genannten beweglichen Gerüstes mit einem Sack und einem Beil dienen sollten. Möglich auch, daß in der Umgegend von Paris unter den rohen Schuppen der Bauernhöfe von ländlichem Schmutz bespritzte, von Schweinen umschnüffelte und als Hühnerstiege dienende Karren standen, die der Bauer Tod sich schon vorgemerkt hatte, um das Futter der Revolution heranzuführen. Jener Holzhauer und jener Bauer sind unablässig in Tätigkeit, aber sie arbeiten im stillen fort, und niemand hört ihren leisen Tritt. Um so besser; denn der Argwohn, daß sie wach seien, hätte für atheistisch und hochverräterisch gegolten.
In England konnte man sich auf Ordnung und öffentlichen Schutz nicht eben viel zugute tun. Verwegene Einbrüche durch bewaffnete Kerle und Beraubungen auf offener Straße kamen selbst in der Hauptstadt fast jede Nacht vor. Man warnte die Familien, aufs Land zu ziehen, ohne vorher ihre Möbel in einem Lagerhaus untergestellt zu haben. Der nächtliche Räuber war bei Tag ein Geschäftsmann in der Stadt, und wenn er von irgendeinem Gewerbsgenossen, den er in seiner Eigenschaft als ›Kapitän‹ anhielt, erkannt und mit mißliebigen Vorstellungen behelligt wurde, so schoß er ihm tapfer eine Kugel durch den Kopf und ritt davon. Der Postwagen wurde von sieben Räubern angefallen; der Kondukteur schoß drei davon nieder, erlag aber selbst den anderen vier, ›weil ihm die Munition ausgegangen war‹, und nun erst konnte der Wagen mit Muße geplündert werden. Der Lord-Mayor von London, diese hochmächtige Person, mußte auf dem Turnhamer Rasen einem einzelnen Straßenräuber stillhalten und angesichts seines Gefolges seinen werten Leib von dem Galgenstrick ausplündern lassen. Gefangene in den Londoner Gefängnissen lieferten ihren Schließern förmliche Schlachten, und die Majestät des Gesetzes ließ sie mit Musketensalven zu Paaren treiben. In den Salons des Hofes stibitzten Diebe den vornehmen Herren Diamantenkreuze von den Hälsen weg.
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