Erinnerungen aus meinem Leben
Freytag, Gustav
Erinnerungen aus meinem Leben
Gustav Freytag
Erinnerungen aus meinem Leben
Ich sollte schreiben, doch ich saß im Dämmer
Verstäubt und reisemüde auf der Bank,
Unlustig zu der Arbeit, einst Erlebtes
Den lieben Deutschen auf dem Markt zu schildern.
Da zog's am Vorhang und das Fenster klirrte,
Um Haupt und Herz ergoß sich helles Licht,
Die Feder fühlt' ich in die Hand gedrückt,
Und leise klang die Mahnung: »schreib«. – Ich schrieb.
Heut leg ich diese Blätter dir ans Herz,
Vertraute meiner Werkstatt, Mahnerin!
Zuerst gehört vor andern dir das Buch,
Zumeist vor allen dir des Freundes Dank.
Siebleben, 1. Oktober 1886.
G. F.
1. Die Vorfahren.
Was auf den folgenden Blättern dargestellt wird, ist keine farbenreiche Schilderung ungewöhnlicher Erlebnisse, sondern einfacher Bericht über meine Jugend und über Erfahrungen, welche meinen Arbeiten Inhalt und Farbe gegeben haben. Gewinne ich dafür den Anteil des Lesers, so würde gerade der Umstand dazu helfen, daß, was hier erzählt wird, in der Hauptsache dem Leben und Bildungsgang von vielen Tausenden meiner Zeitgenossen sehr ähnlich sieht. Es ist das Heraufwachsen eines Einzelnen in den Jahren von den Freiheitskriegen bis zur Gründung des Deutschen Reiches. Jeder, dem in dieser Zeit vergönnt war, sich tätig zu regen, hat den Vorteil, daß in seinem Leben etwas von dem fröhlichen Wirken einer aufsteigenden Volkskraft erkennbar ist.
Was das Leben des Mannes an seinem Charakter durchbildet, von seinen Anlagen folgereich macht, das sind wir zu beobachten und abzuschätzen gewöhnt, allerdings auch im besten Falle mit unvollkommener Kenntnis. Aber weit schwerer wird es zu verstehen, was dem Lebenden als Förderung und Beschränkung durch seine Eltern und Vorfahren zu teil geworden ist, denn nicht immer sind die Fäden sichtbar, durch welche sein Dasein an die Seelen vergangener Menschen gebunden ist; auch wo sie sich erkennen lassen, ist ihre Zugkraft kaum zu berechnen. Nur das merken wir, daß die Gewalt, mit welcher sie leiten, nicht in jedem Leben gleich stark ist, und daß sie zuweilen übermächtig und furchtbar wird. Es ist gut, daß uns Menschen in der Regel verborgen bleibt, was Erbe aus ferner Vergangenheit, was freier Erwerb des eigenen Daseins ist, denn das eigene Leben würde angstvoll und kümmerlich werden, wenn wir als Fortsetzungen vergangener Menschen unablässig mit dem Segen und Fluch rechnen müßten, der aus der Vorzeit über unserer Lebensaufgabe hängt. Wohl aber ist es fröhliche Arbeit, sich zuweilen bei einem Rückblick auf frühere Jahre in das Bewußtsein zu leiten, daß viele Erfolge des eigenen Lebens nur möglich geworden sind durch die Habe, welche aus dem Leben unserer Eltern auf uns übergegangen ist, und durch anderes, was ältere Vergangenheit der Familie uns vorbereitet hat.
Daß es für mich leicht wurde, in den Kämpfen meiner Zeit auf der Seite zu stehen, welcher die größten Erfolge zufielen, das verdanke ich nicht mir selbst, sondern der Fügung, daß ich als Preuße, als Protestant und als Schlesier unweit der polnischen Grenze geboren bin. Als Kind der Grenze lernte ich früh mein deutsches Wesen im Gegensatz zu fremdem Volkstum lieben, als Protestant gewann ich schneller und ohne leidvolles Ringen den Zugang zu freier Wissenschaft, als Preuße wuchs ich in einem Staat auf, in dem die Hingabe des Einzelnen an das Vaterland selbstverständlich war.
Wenn ich zunächst aufsuche, was ich von meinem Eigentum den Vorfahren verdanke, so sei gestattet, als erste Habe meinen Namen zu rühmen, die Hausmarke, welche den Mann und seinen Erwerb von der Wiege an durch das ganze Leben zeichnet, nach seinem Tode zuweilen noch, was von seinen Werken im Volke dauert.
Der Name Freytag ist ein altdeutscher Männername wie Hildebrand, Wilhelm. Die erste Silbe ist Name der germanischen Göttin Frija, die zweite unser Wort Tag, welchem in alter Zeit die Nebenbedeutung: Licht, Glanz anhing. Die Verwendung des Wortes Tag zu Eigennamen ist wohl älter als die Übersetzung der lateinischen Wochentage ins Deutsche, denn es wurde nicht nur mit Namen des heidnischen Götterglaubens zu Personennamen verbunden, auch mit anderen Wörtern, z.B. in den alten Namen: Helmtag, Adaltag. Der Name Freytag ist aus dem frühen Mittelalter nicht bei allen deutschen Stämmen nachzuweisen, er erscheint selten in Oberdeutschland, wo eine andere Zusammensetzung: Fridutag überliefert ist. Dagegen ist er in Thüringen altheimisch. In Schlesien führt ihn 1382 ein Bürger der Neustadt Breslau.
Meine Vorfahren aber, an deren Sippe sich das Wort als Familiennamen befestigte, waren deutsche Landleute unweit der polnischen Grenze.
Zwischen Schlesien und Polen, da wo der kleine Bach Prosna die Länder scheidet, ragte im frühen Mittelalter ein unwegsamer Grenzwald. Er war mit seinem Sumpfgrund und den Verhauen, die darin angelegt wurden, der Landesschutz gegen feindliche Einfälle. Solche Grenzbefestigungen bestanden im Osten Deutschlands, wenn nicht ein breites Wasser von den Nachbarn schied, wohl überall, wo einst Germanen gewohnt hatten; und in den Kämpfen der Sachsenkaiser gegen die Slawen, wie in den Kriegsreisen des deutschen Ordens gegen Preußen und Litauer, ist der Zug durch Baumverschanzungen, die Unterhaltung des Heeres in der Wildnis, das Lichten mit der Axt, die Abwehr plötzlicher Angriffe, und die Wahrung der Schutzsperren, welche am Eingange und Ausgange der Waldwege errichtet wurden, bis ans Ende des Mittelalters fast die schwierigste Aufgabe der Heerfahrten, ähnlich wie zur Zeit des Cäsar und Tacitus an der deutschen Westgrenze.
Als im 13. Jahrhundert Schlesien unter den Piasten mit deutschen Ansiedlern besetzt wurde, entstand am Binnenrande des großen Waldes, da wo ein Reiseweg von Burg Namslau nach Polen führte, die deutsche Stadt Konstadt. Zwei Meilen oberhalb wurde durch die Kreuzherren vom roten Stern, einen der zahlreichen geistlichen Ritterorden, welche damals Krankenpflege und Kampf gegen die Heiden auf sich nahmen, die Kreuzburg gegründet, dazu eine Stadt mit deutschem Recht. Auf der Außenseite des Grenzwaldes war nahe der Prosna eine von den Wegsperren, welche in Preußen Beitschen, in Schlesien Pitschen hießen, auch dort erwuchs eine deutsche Stadt. In dem Dreieck, welches durch die drei Städte Konstadt, Kreuzburg, Pitschen gebildet wird, verlief durch Jahrhunderte das Leben meiner Familie.
Denn auch der Grenzwald wurde gelichtet und durch deutsche Dörfer besetzt. Nahe bei Konstadt entstand Schönfeld, mitten im Walde Schönwald, in gleicher Entfernung von den drei Städten. Es wurde ein ansehnliches Dorf mit zwei Scholtiseien.
Dort lebte der älteste Vorfahr, von welchem Kunde erhalten ist, Simon Freytag (geb. 1578), ein Freibauer, wie die Besitzer des Hofes sich nannten. Er und seine Nachkommen saßen auf Höfen mit fränkischen langen Ackerbeeten, sie bauten die Scholle unter wohlwollenden Landesherren, den Herzögen von Brieg, und erlitten, was die Kriege der Fürsten und die Einbrüche fremder Haufen dem Landmann zu bereiten pflegten. Wie ihre Landesherren waren sie seit der Reformation evangelisch geworden.
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