Auch im geheimen Verstecken übten wir uns. An einer Ecke des Hofes wurde ein tiefes Loch gegraben, die Wände sorgfältig mit flachen Steinen und Moos bekleidet und in diesem Raume vieles Gute niedergelegt, das begehrlichen Blicken entzogen werden konnte, vor allem Obst; aber auch Lore und der Hanswurst mußten sich oft gefallen lassen, in der finsteren Höhlung zu kauern. Die Öffnung wurde mit großer Kunst verdeckt, so daß sie niemand finden konnte, doch drang zuweilen eine Maus räuberisch hinein. Diese geheimen Niederlagen, welche Mauken hießen, waren ein alter Kinderbrauch, wohl noch eine Nachahmung der kriegerischen Verstecke von Proviant und Lebensmitteln in längst vergangener Zeit. Für uns war die Schwierigkeit nur, das Geheimnis zu bewahren. Dies sollte unverbrüchlich sein, jedesmal wurde feierlich darüber verhandelt und jeder Eingeweihte in Pflicht genommen. Immer aber war das Entzücken über unser höheres Wissen so übermächtig, daß wir wenigstens die Mutter in das Vertrauen ziehen mußten.
Viele Wochen vor Weihnachten sind die Knaben in emsiger Tätigkeit, denn als ein Hauptschmuck des Festes wird nach Landesbrauch das Krippel aufgestellt, Bilder der Krippe, in der das Kindlein liegt, mit Maria und Joseph, den heiligen drei Königen, den anbetenden Hirten mit ihren Schafen und darüber der glitzernde Stern und Engel, welche auf einem Papierstreifen die Worte halten: »Gloria in excelsis«. Die Figuren kauften die Kleinen auf Bilderbogen, schnitten sie mit der Schere aus und klebten ein flaches Hölzlein mit Spitze dahinter, damit die Bilder in weicher Unterlage hafteten. Der heiligen Familie aber, dem Ochsen und Eselein wurde ein Papphaus mit offener Vorderseite verfertigt, auf dem Dach Strohhalme in Reihen befestigt, der Stern war von Flittergold. Das Waldmoos zu dem Teppiche, in welchen die Figuren gesteckt wurden, durften wir aus dem Stadtwald holen, dorthin zog an einem hellen Wintertage die Mutter mit den Kindern, begleitet von einem Manne, der auf einer Radeber den Korb für das Moos fuhr. Es war zuweilen kalt und die Schneekristalle hingen am Moose, aber mit heißem Sammeleifer wurden die Polster an den Waldrändern abgelöst und im Korbe geschichtet, daheim auf einem großen Tisch zusammengefügt und an zwei Ecken zu kleinen Bergen erhöht. In der Mitte des Hintergrundes stand die Hütte, über ihr schwebte an seinem Drahte der Stern, auf den beiden Seiten hatten die Hirten und Herden mit den Engeln zu verweilen. Die ganze Figurenpracht wurde durch kleine Wachslichter erleuchtet, welche am Weihnachtsabend zum erstenmal angesteckt wurden.
Wenn die Lichter brannten und die Engel sich bei leichter Berührung wie lebendig bewegten, dann hatten die Kinder zum erstenmal das selige Gefühl, etwas Schönes verfertigt zu haben. Während des Festes wurden dann ähnliche Arbeiten kleiner und erwachsener Künstler besehen, denn fast in jedem Haushalt stand ein Krippel, und mancher wackere Bürger benutzte seine Werkstatt, um dasselbe durch mechanische Erfindungen zu verschönen; man sah auf den Bergen große Windmühlen, deren Flügel durch rollenden Sand eine Zeitlang getrieben wurden, oder ein Bergwerk mit Grubeneinfahrt, in welchem Eimer auf und ab gingen, und häufig stand ganz im Vordergrund ein schwarz und weiß gestrichenes Schilderhaus mit rotem Dach und davor die preußische Schildwache. Aber diese Zusätze waren dem Knaben niemals nach dem Herzen, er hatte die dunkle Empfindung, daß sie sich mit den Engeln und den heiligen drei Königen nicht recht vertragen wollten.
Und wieder eine Kinderfreude. Die Mutter hat einen kleinen Vogel lebendig gemacht. Im Pastorgarten sah ich vor mir auf der Erde etwas Nacktes, ein Sperlingskind, das aus dem Neste gefallen war, ich hob es auf und als ich sein Herzchen zucken fühlte, wurde mir weh zu Mute und ich trug es, selbst zitternd und in Tränen, nach Hause. Die Mutter behandelte den Zufall mit sichrer Überlegenheit, verfertigte ein Nest aus Watte, kochte ein Ei und brachte etwas von dem zerhackten Inhalt mit einem Federkiel in das winzige Geschöpf. Dies gewann neuen Lebensmut und wurde durch fortgesetzte richtige Behandlung dem irdischen Dasein erhalten. Ich aber empfand einen glückseligen Schauer, als ich ihm selbst die Nahrung eingeben durfte und beobachtete, wie sich allmählich der nackte Leib mit Flaum und kleinen Kielen bekleidete. Matz wuchs und erhielt sein Federkleid, er flatterte mir auf den Kopf, saß auf meiner Schulter und wurde bald mein vertrauter Geselle, der alle Scheu verlor und in der Stube den ganzen Tag um mich herum hüpfte. Als er ziemlich herangewachsen war, mahnte die Mutter, den Kleinen wieder ins Freie zu bringen, ich trug ihn traurig in den Pastorgarten und setzte ihn auf einen Baum, dort aber duckte er sich kläglich zusammen und fand bei dem Spatzenvolk des Gartens schlechten Willkommen, denn dies wilde Gesindlein kam herangeflogen und schrie so zornig gegen mein armes Findelkind, daß dieses entsetzt immer wieder zu mir zurück flog. Endlich wurde beschlossen, daß ich den Vogel behalten durfte, und ich trug ihn seelenvergnügt in unsere Stube zurück. Dort blieb er den ganzen Sommer mein Spielkamerad. Aber ihn erreichte im Winter das Schicksal. Durch einen Spalt der Türe sprang die Katze des Nachbars herein, Matz war im Nu in ihren Krallen und gemeuchelt. Ich stürzte auf die Mörderin zu – ich sehe noch jetzt die wilden Augen – und entriß ihr den Vogel, aber er war tot. Das war der erste große Schmerz meines Lebens, so herzzerreißend, daß auch die Mutter, die mich fest in den Armen hielt, nichts dagegen vermochte. Ich habe seit der Zeit nie wieder ein Tier zu meinem Hausgenossen gemacht, aber die gute Freundschaft zu dem großen Volk der Vögel ist mir geblieben, und die Verwandten meines kleinen Gespielen behaupten noch heut in meinem Bereich unbeschränkte Freiheit für Haushalt, Kinderzucht und Kirschenessen, sie piepen seither auch oft genug aus meinen Büchern.
3. Eindrücke aus der Fremde.
Wenn der Sohn den Vater auf einem Spaziergange begleiten durfte, so bemerkte er wohl die Achtung, mit welcher die Leute grüßten.
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