Der Vater hatte viele als Kinder gekannt und als Arzt behandelt. Er sprach oft an, und die Männer frugen ihn um Rat und freuten sich ihm zu zeigen, was in ihrem Hause und Geschäft sehenswert war, nur die Bäuerlein, welche am Ende der Markttage mit wankendem Schritt heimwärts zogen, wichen im großen Bogen aus.
Wie beliebt aber auch der Vater bei den Bürgern war, er behielt im Verkehr eine Zurückhaltung, welche jede Vertraulichkeit ausschloß, und die Sünder gegen die Stadtordnung wußten wohl, daß er gewaltig gegen die Missetäter losbrechen konnte. Die volle Wärme seines Gemüts kam nur gegen Weib und Kind zu Tage, gegen die Söhne war er von immer gleichbleibender Milde und Freundlichkeit, die Strafen vollzog die Mutter, sie war Mahnerin und Vertraute, der Vater aber, der doch nie schalt, gefürchtet und verehrt. Er hatte in der Jugend schönes, kastanienbraunes Haar gehabt, lange trug er es im Zopf, den die Mutter aufbewahrte und den Kindern zuweilen als Familienkleinod zeigte; später quollen ihm die Löckchen unter dem Hut hervor, sie wurden früh silbergrau, und die Hände der Kleinen griffen gern danach. Ich habe meinen Vater nur mit ergrautem Haar gekannt. Er sah sehr würdig aus, wenn er unter seinem Zylinderhut, der in der Form altmodisch, aber ein seines Kunstwerk des Hutmachers war, über die Straße schritt, hoch aufgerichtet, in langem Überrock, in der Hand einen starken, oben gekrümmten Bambusstock, auf den er viel hielt, – er war ein Erwerb aus der hallischen Zeit, und die Knaben wurden nicht müde, ihn zu bewundern.
Es war natürlich, daß der kleine Sohn des Bürgermeisters zu der bewaffneten Macht der Stadt in ein freundliches Verhältnis trat. Da Kreuzburg damals keine Garnison hatte, so war der berittene Gendarm des Kreises die stolzeste kriegerische Gestalt. Die Stadt selbst aber wurde von zivilen Gewalten behütet. Diese waren die beiden Ratsdiener mit der Dienstmütze, dem roten Kragen und einem dicken Rohrstock in der Faust, sie sahen stattlich aus und waren das Schrecken der Vagabunden und der trunkenen Landleute aus den polnischen Dörfern; einer war lang, der andere kurz, der kleinere aber trug als früherer Husar noch seinen mächtigen Schnauzbart, er hatte im Felde die schwere Kunst erlernt, zu trinken ohne aus dem Gleichgewicht zu kommen, war ein furchtloser und heftiger Mann, Tyrann der Straße und in Polizeisachen die rechte Hand des Bürgermeisters. Der Wachtdienst in der Stadt und an den Toren wurde von den vierundzwanzig Jüngsten besorgt. Nach der neuen Städteordnung sollten nämlich die jüngsten Bürger diesen Dienst versehen, da aber Stellvertretung gestattet war und gerade die jungen Bürger die Nachtwachen ungern ertrugen, so wurde die Stellvertretung bald allgemein, und die, welche die jüngsten hießen, waren in Wirklichkeit bedächtige Grauköpfe, welche in ihrem Handwerk zurückgekommen waren – die meisten Tuchmacher – und sich jetzt mit der kleinen Entschädigung durchbrachten. Sie trugen um ihren langen Rock einen schweren Säbel, als Anzeichen, daß sie zu fürchten waren, erwiesen sich aber stets als der ruhigste und friedfertigste Teil der Bürgerschaft. Den Schlaf machten sie bei Tag und Nacht in anspruchsloser Weise ab, bei Tage saßen sie auf der Bank der Wache neben dem Rathause, bei Nacht saßen sie an den verschlossenen Stadttoren oder wandelten langsam und niemandem schädlich durch die Straßen. Aber jeden Morgen und jeden Abend um acht Uhr lärmte die Rassel an der Haustür des Bürgermeisters, der Gefreite brachte den Rapport über die Ereignisse der letzten zwölf Stunden und begann jedesmal mit den Worten »Herr Bürgermeister, 's ist weiter nichts Neues«, auch wenn in Wahrheit etwas Aufregendes gemeldet werden mußte, ein ertappter Dieb oder ein Feuerschein am Horizont. Der Vater hörte den Bericht ernsthaft an und entließ mit einer Mahnung zur Wachsamkeit, welche ebenfalls im Laufe der Jahre formelhaft geworden war. Doch wußten die Wächter, daß es mit dem Dienst streng genommen wurde und daß der Bürgermeister selbst nicht selten zu später Nachtzeit in die Ratswache und an die Tore kam, um nachzusehen, ob alles in Ordnung war. Für außerordentliche Fälle galt der Stadt die Schützengilde als Hilfstruppe, sie war nach der Städteordnung auch für die Sicherheit der Gemeinde neu eingerichtet worden, und am Tage des Königschießens marschierten die wirklichen vierundzwanzig Jüngsten stolz hinter den grünen Uniformen der Büchsenträger.
Es war feste Ordnung in der Stadt, in der Verwaltung Pünktlichkeit und Sorgfalt, den Bürgern gegenüber ein altfränkisches, väterliches Regiment. Nur ein Nachtbrand in der Vorstadt oder auf nahem Dorfe störte zuweilen die Ruhe. Dann rief die kleine Feuerglocke auf dem Ratsturm mit gellendem Ton die Bürger zusammen. Die Spritzen wurden aus ihrem Haus am Markte geschoben, die plumpen Wasserbottiche fuhren auf ihren Schleifen hinterher, die Leute rannten mit ledernen Eimern der Brandstätte zu. Der Vater war einer der ersten auf dem Platz, er leitete die Ordnung des Löschens und blieb zur Stelle, bis er jede Gefahr beseitigt sah. Auch die Kinder wurden von der Unruhe erfaßt, sie waren nicht im Bett und schwer im Zimmer zu halten.
Der Vater erkrankte. Es war ein Leiden, welches eine Operation nötig machte, und wir reisten deshalb in kleinen Tagesfahrten die dreizehn Meilen bis Breslau, wo wir einige Wochen verweilten. Aber die Erinnerungen an die große Stadt, welche die Seele des Kindes bewahrt hat, sind nur spärlich. Eine enge dunkele Gasse mit himmelhohen Häufern, in der wir wohnten, Gedränge der Menschen auf den Straßen, ein großer Hofraum, in welchem ein Wagenbauer einen Kutschwagen braun lackierte, ich stand täglich dabei und sah der sorgfältigen Arbeit bewundernd zu. Zuweilen war von einer großen Illumination die Rede und von einer silbernen Wiege, welche die Stadt der neuen Kronprinzeß Elisabeth geschenkt hatte. Mir schien es natürlich, daß die Königskinder in silbernen Wiegen lagen. Dann war ein kleiner rundlicher Knabe – er war ein Enkel jenes Hermes, welcher »Sophiens Reise« geschrieben hat, und wir müssen wohl irgendwie mit der Familie verwandt gewesen sein, denn es bestand ein Besuchsverhältnis – dieser wies mir viele große Bilderbücher, darunter eine Sammlung von Karrikaturen auf Napoleon, und ich sehe noch ein Blatt vor mir, den Kaiser auf einem Berge von Menschenschädeln. Das Bild war mir widerwärtig, nicht weil mir der böse Mann leid tat, dessen Aussehen ich bereits kannte, sondern weil es so garstig aussah. Wir alle waren froh, als der Vater geheilt mit uns heimkehrte.
Und wieder ging es fort in stillem Frieden.
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