Auf dem Schoß der Mutter sitzt eine kleine helle Gestalt und greift mit den Händen nach mir. Die Hände sind so klein und das ganze Kerlchen ist so klein und es kann den Namen des Bruders nicht ordentlich aussprechen, aber die großen Augen sehen schon so warm, herzlich und treu nach mir hin, wie sie ein ganzes Menschenleben hindurch taten. Mein Bruder Reinhold ist dreieinhalb Jahr jünger als ich, ich lerne ein wenig um ihn sorgen, mein Spielzeug zu seiner Unterhaltung hergeben und ihn altklug belehren; und er purzelt und läuft um den Bruder herum, stopft Sand in meine winzigen Kochtöpfe und schüttet ihn wieder aus, hämmert mit dem Kopf der Lore zur größten Beschwer des Kunstwerks auf den Fußboden, und zieht meinem Hanswurst die bunten Lederflecken aus seiner Montur, bis er endlich lernt mit dem Steckenpferd den Tisch zu umkreisen und neben dem Bruder aus zerriebenen Äpfeln und Nüssen kleine Gerichte herzustellen. Zuletzt gehn wir beide Hand in Hand mit einander durch die Haustür in die Welt, wo große Hunde laufen und Pferde mit sehr großen Wagen über das Pflaster fahren; auch er trägt eine gestrickte Deckelmütze mit dem Stern, aber seine ist kornblumenblau, damit eine Verwechslung unmöglich werde. Und wenn die Leute uns freundlich anreden, und wir den Versuch machen, die Mützen zu ziehen, dann fühlt die Frau Bürgermeisterin bei dem Lobe der Fremden die holdeste und liebenswerteste Regung der Eitelkeit, den Stolz einer Mutter. Mein Bruder Reinhold war von seiner ersten Kindheit an ein Prachtkind, groß, stark und kraftvoll, und er behielt diese Eigenheiten auch im Mannesalter. Er hing warm an seinem Bruder und ich erinnere mich nicht, daß wir in unserem ganzen Leben jemals in Zwist geraten sind. Für die Mutter war er nicht leicht zu ziehen, denn der kräftige Knabe war von einer ganz ungewöhnlichen Heftigkeit, er ballte, sobald ihn etwas erzürnte, die kleinen Fäuste und geriet ganz außer sich. Ihm war in der frühen Kinderzeit nicht immer von Vorteil, daß er als der jüngere heranwuchs, denn er verkehrte fast nur mit den älteren Gespielen seines Bruders, die gegen den kleinen Kameraden nicht die Rücksicht übten, welche seine Jahre forderten. Aber seine Heftigkeit wurde durch Selbstbeherrschung später in einer Weise gebändigt, wie ich das sonst an keinem andern Menschen erlebt habe, denn als er ein Mann geworden, war der Grundsatz seines Wesens eine ruhige Kraft und gemessene Freundlichkeit.
Die liebe Mutter war eine helle Gestalt, welche sich und andern das Leben angenehm zu machen verstand, eine ausgezeichnete Wirtin, dabei von einer gewissen künstlerischen Begabung, erfindungsreich und anschläglich. Sie hatte nie Zeichnen gelernt, aber sie verfertigte sich selbst die Muster zu den Teppichen, die sie unternahm, sie hatte auch in der Landwirtschaft des Vaters schwerlich viel Zeit gehabt mit den seinen Handarbeiten der Frauen umzugehen, aber sie versuchte bis in ihr hohes Alter alles Neue, was in dieser Art gerade wieder aufkam: Kreuzstich, Plattstich, Filet, Häkeln, alles was man nur stricken, nähen und sticken kann. Und was Bäckerei betrifft, Einsieden von Früchten und dergleichen, so war ihr niemand überlegen. Allerdings mit einer Beschränkung. Man kochte damals noch bei lustiger Herdflamme, die Maschine und Steinkohle lagen im Schoße der Zukunft, und ihr war deshalb das ganze Leben lang ein Kummer, daß die Torten, welche sie in immer neuen Stoffmischungen zu schaffen bemüht war, gern wasserstriemig wurden. Ihren Knaben freilich war das gar nicht leid, denn diese erhielten dann in sehr kleinen Bissen den Löwenanteil. Bei aller Arbeit wurde der älteste Sohn ihr Vertrauter, und ich wundre mich, daß ihm keine Schürze über seine männliche Tracht zugemutet ward, er stampfte die Gewürze, rieb als Gehilfe zu Weihnachten den Mohn mit einer großen runden Keule, lief Knäuel wickelnd um die Stühle, entblätterte Krautköpfe für den Hobel, und lernte auch Lichte in Zinnformen gießen, denn damals gab es noch kein Stearin, und die Putzschere war ein unentbehrliches Werkzeug, dessen Handhabung durch die Kinder zuweilen den Abendbesuch in plötzliche Finsternis setzte. Das störte nicht sehr, man zündete das Licht in der Küche mit Schwefelfäden und Pinkfeuerzeug wieder an; bis endlich die roten Fläschchen mit Stupfhölzern erfunden wurden, welche aber der Vater als eine Neuerung wegen des spritzenden Vitriols nicht billigte. Er selbst trug in der Westentasche immer Stahl, Stein und Schwamm und unterrichtete die Knaben vorsorglich im Gebrauch zum Nutzen ihrer Männerjahre. Du liebe Zeit!
Da in dem neu bezogenen Hause ein winzig kleiner Hofraum von wenigen Quadratfuß vorhanden war, so bestand die Mutter darauf, eine Bank hinein zu setzen, begann Gärtnerei in Topfgewächsen, unternahm sogar Hortensien zu ziehen, und verwandelte den Raum nach wenig Jahren in einen ganz von Blumen umschlossenen Aufenthalt, in welchem der Herr Bürgermeister die Pfeife rauchte, auch die beiden Knaben noch Platz auf Stühlchen fanden und die Mutter fröhlich bei ihrer Handarbeit an neue Unternehmungen dachte. Ob die Kleider der Kinder jemals Geld gekostet haben, ist zweifelhaft; die Mutter schnitt und nähte aus der Garderobe des Vaters jede Art von Kleidungsstücken, und wußte ihnen durch schöne Säume und besonderen Schnitt ein stattliches Aussehen zu geben, das alle Hausmütter zu achtungsvoller Anerkennung zwang. Sie hatte einen unermeßlichen Schatz bunter Fleckchen von Seide und Tuch, dazu einen großen Beutel mit Knöpfen von den wunderlichsten Formen aus der Zopfzeit, so daß für die Kinder das Betrachten und Sortieren ein oft erbetener Genuß wurde.
Zwischen den Haushaltungen der Stadt und den Ackerbürgern der Vorstädte bestand ein gewisses landwirtschaftliches Tauschverhältnis, welches zur Folge hatte, daß auch wir alljährlich für den Sommer einige Quadratruten Ackerland in der Flur zur freien Benutzung erhielten. Auf diesem Erdflecke waltete die Mutter, die freilich in dem großen Pfarrhofe ihrer Heimat an Höheres gewöhnt war, wie ein weiser Feldherr, der auch eine kleine Macht ehrenvoll auszunutzen versteht. Es ist unglaublich, was sie alles darauf zu ziehen wußte, nicht nur den Bedarf von Kartoffeln, auch hochgeschätzte Gemüse, das Verschiedenartigste stand beieinander, alles gedieh, und der Fleck war schon von weitem durch die bunten Blättergebilde, welche sich in der Sonne blähten, erkennbar. Dies aber war kein Vorteil, denn gerade das Liebste, die Gurken, wurde ihr alljährlich gestohlen, nur die Kürbisse dauerten zum Trost der Kinder, weil sie wenig begehrt waren. Demungeachtet ließ die Mutter von ihren Pflanzungen nicht ab. Oft ging sie am frühen Morgen eilig hinaus, besorgte selbst das Gießen und war wieder zur Stelle, bevor wir aus den Federn stiegen. Wenn aber der Tag der Ernte kam, war nicht nur die Hausfrau glücklich, trotz ihrem geheimen Kummer über das Verlorene, noch mehr die Kinder. Denn dies war der einzige Tag im Jahre, wo wir bei kleinem Feuer im Freien Kartoffeln rösteten, die sogleich gegessen wurden und den Mund schwarz färbten, und wo wir bei warmem Wetter eine Weile barbeinig auf dem Felde umherlaufen durften. Die Freude darüber war wohl deshalb so groß, weil der Marsch auch geheimen Schmerz bereitete, denn die Stoppeln stachen sehr in die kleinen Füße.
Die meisten Kinderspiele des Jahres wurden von uns geübt, der Drache flog, der Mönch brummte, die Bleisoldaten marschierten auf dem Fußboden und was die Händler, welche »Spilleleute« hießen, von geschnitzter Holzware an den Jahrmärkten ausstellten, wurde so lange sehnsüchtig betrachtet, bis wir davon heimtragen durften. Am liebsten aber spielten wir mit bunten Bohnen, welche nach verschiedenen Regeln in ein rundes Loch geschoben und geworfen werden mußten, denn die kleinen Kugeln von Marmor und Ton waren bei uns nicht zu haben.
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