Aber sie fielen nicht, sondern bewegten die Beinchen unter allgemeiner Bewunderung und sammelten dann die Gröschel, welche ihnen die Kinder spendeten. Und erst Bajazzo! Ost habe ich seitdem diesen Charakter der Sägespäne gesehen, aber niemals war er so unsäglich lustig, wie in Kreuzburg, wenn er sich in der Luft überschlug, mit den Stühlen Purzelbäume schoß und immer wieder von dem Pferde, auf dem er durchaus reiten sollte, in den Sand fiel; er konnte aber ganz gut reiten. Dann die klugen kleinen Pferde! Wenn ihr Herr ihnen ein Kartenblatt auf den Boden legte, so gaben sie durch Scharren mit dem Fuße genau die Zahl der Kartenzeichen an, und wenn der Herr frug, welches das artigste Kind in der Gesellschaft sei? so blieb das Pferd vor dem Knaben des Bürgermeisters stehen und begrüßte ihn durch ein Kopfnicken. Der Kleine wurde vor Scham rot, aber er ging dann schüchtern zu dem Pferde und versuchte es zu streicheln.
Sehr berühmten Künstlern wurde wohl auch gestattet, das große Seil aus dem obersten Turmloch bis auf den Markt zu spannen und darauf die Großmutter im Schiebkarren zu fahren, wir wußten aber, daß dies nur eine Puppe war. In dieser gefährlichen Tätigkeit sah ich den bekannten Kolter, von dem in Kreuzburg die Sage ging, daß kurz zuvor Großfürst Konstantin in Warschau heimlich einen andern Künstler angestiftet hatte, dem Kolter, als dieser mit dem Karren vom Turme herabkam, mit einer andern Großmutter auf dem Seil entgegenzufahren. Als die beiden auf der Höhe zusammentrafen, verlor der andere den Mut, da rief der stolze Kolter »bücke dich«, warf seinen Karren zur Erde, setzte im gewaltigen Sprunge über den Nebenbuhler weg und kam, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, auf dem Seile herab. Einen Mann von solchen Eigenschaften ehrte auch der Vater, und ich erinnere mich, daß Kolter mit seiner Frau in der guten Stube den Eltern gegenüber saß und ein Glas Wein vor sich hatte.
Alljährlich unternahm nach längerer Erwägung die Familie wenigstens einmal eine Vergnügungsreise nach der Stadt Pitschen. Für uns Kinder gehörten die zwei Meilen Fahrt und der Aufenthalt bei werten Freunden der Eltern zu den großen Festfreuden des Jahres. Ich eilte dann mit kleinen Gespielen sobald als möglich auf den Sandberg, der nahe der Stadt hinter den letzten Scheunen lag, dort suchte ich stundenlang nach kleinen gerundeten Kieseln, auf denen sich gerade dort schöne moosähnliche Zeichnungen fanden, und nach Feuersteinknollen, welche mit vieler Mühe aufgeschlagen wurden, weil zuweileneine Versteinerung darin saß. Von der Höhestarrte ich neugierig auf die schwarzen Wälder in der Ferne. Dort drüben lag Polen, das unheimliche Land, von dem daheim oft die Rede war.
Zur Seite aber sah man die Stadt hinter ihrer Mauer, über welche noch einzelne Türme ragten. Der Ort ist die älteste der drei Städte im Kreise, kein Chronist, keine Urkunde weiß zu sagen, wann er entstand; er war als Straßensperre gegen Polen bereits vorhanden, als im dreizehnten Jahrhundert die Besiedelung der Umgegend mit deutschen Kolonisten erfolgte. Seitdem war der Wald, welcher ihn von dem Binnenlande geschieden hatte, fast ganz verschwunden, auch die Stadt hatte man irgend einmal nach demselben Plane wie Kreuzburg aufgebaut, in der Mitte den Ring mit Rathaus und Kaufhäusern, die vier Gassen, welche von den Toren nach dem Markte führten, und seitwärts den Kirchhof mit Kirche und Pfarrhaus. Aber immer noch bestand der Ort abseits vom Verkehr der Landschaft, einsam an seinen Sandhügeln. Ihm gegenüber achtete sich Kreuzburg als Großstadt. Die Pitschner betrieben noch in der Mehrzahl Ackerbau wie im Mittelalter, der Verkehr mit Polen war gering, wahrscheinlich zumeist Schmuggel in den Händen weniger jüdischer Kaufleute, in der Stadt ragte mitten unter Häusern noch der hohe Balken eines Ziehbrunnens mit dem Eimer an der Kette, was bei uns ganz unerträglich gewesen wäre. Auch die Schützengesellschaft von Pitschen hatte bei ihrem Königschießen noch altväterischen Brauch. Dem Zug voran schritt ein Narr mit einer langen Schlittenpeitsche, welche die Waden der andrängenden Straßenjungen geschickt zu treffen wußte, dann kamen zwei Mohren, welche Hörner bliesen, aber wer jemals schwarzen Peter gespielt hatte, wußte recht gut, daß ihre Farbe durch Korkstöpsel hergestellt war; hinter ihnen tanzte und sprang auf offner Straße der Zieler die große Scheibe auf dem Rücken, ihm folgte der Hauptmann unter einem ungeheuern Hahnenfederbusch, und nach diesem marschierte eine kleine Zahl Schützen in Uniform, seltsamen Erbstücken mit sehr hohem Kragen. Es waren der Schützen vor den Augen des Knaben sehr wenige, bei uns in Kreuzburg wimmeltees beim Königschießen von Uniformen.
Aber wie altväterisch die bewaffnete Macht der Pitschner auch einherzog, sie war in Wahrheit mit kriegerischem Mut erfüllt und hatte diesen zuweilen in ernstem Kampf erwiesen. Denn seit undenklicher Zeit stand Pitschen ganz für sich allein auf Kriegsfuß mit Polen. Wenn die Waffen durch ein Jahr geruht hatten, so wurden sie doch zur Zeit der Heuernte ergriffen.
Jenseit der Stadt lag hinter dem Stadtwald eine Wiesenfläche zwischen einem breiten Graben und dem Grenzbach, welchen alte Leute von Pitschen in meiner Kinderzeit mit halbdeutschem Namen Briesnitz nannten, der sonst aber Prosna heißt. Der Wiesengrund gehörte zum Teil der Kämmerei, zum Teil einzelnen Bürgern der Stadt. Sein jährlicher Ertrag von 300–500 Taler war in jener armen Zeit den Besitzern von hohem Wert. Und gern hätten sie friedlich ihr Heu gemäht, aber dies war nicht möglich; denn um diesen Grund bestand ein uralter Streit zwischen Pitschen und Polen, beide erhoben Anspruch darauf. Doch waren diese Wiesen nicht die einzige Stelle, wo die Polen Streit wegen der Landesgrenzen erregten. Auch weiter aufwärts bis in den Kreis Lublinitz hatten die Rittergüter ähnliche Kämpfe um ihre Wiesen am Grenzwalde zu bestehen. Allerdings hatte schon im sechzehnten Jahrhundert ein Vertrag zwischen Herzog Georg von Liegnitz und Brieg und König Stephan von Polen die Grenze festgesetzt, aber die Polen hatten sich wenig an den Vertrag gekehrt und durch fast zweihundert Jahre versucht, Heuraub zu üben, bis unter Friedrich dem Großen General von Lossow 1773 die alte Grenze wieder herstellte und Grenzpfähle mit dem preußischen Adler längs der Prosna aufrichtete. Doch als im unglücklichen Kriege von 1806 Südpreußen verloren ging, hieben die Polen bei Nacht die Pfähle wiederholt ab und setzten ihre weißen Adler so, daß die Wiesen auf polnischer Seite lagen. Damals hatten sogar die Franzosen, welche die Grenze besetzt hielten, für die Pitschner Partei genommen und die Grasdiebe durch Schüsse vertrieben. Seitdem entbrannte fast alljährlich in der Heuernte der Kampf.
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