Die edlen Forderungen der Humanität waren in die Seelen der Regierenden übergegangen, der Wohlstand im Volk hatte sich gehoben, Handel und Industrie arbeiteten unternehmungslustig mit stärkerer Triebkraft, das deutsche Leben erblühte wie unter dem Sonnenlicht eines warmen Frühlingstages, während sich über Frankreich die wilden Wetter entluden. Auch das Studentenleben hatte gewonnen, die alte wüste Roheit war gemindert, die Schönseligkeit der letzten Jahrzehnte hatte den Universitäten eine größere Innigkeit der kameradschaftlichen Beziehungen hinterlassen, das Bedürfnis nach großen und edlen Gefühlen war in den jungen Seelen mächtig geworden. Der Vater hatte reichen Anteil an den geselligen Freuden jener Zeit, an den Fahrten nach Lauchstädt, wo er die Aufführungen des Theaters von Weimar bewunderte und einige der Schauspieler kennen lernte, an den Besuchen in der Gartenwirtschaft des wunderlichen Dr. Bahrdt und an den Zusammenkünften auf den Wohnstuben der Studenten, von denen die seine, ein geräumiges Zimmer, viel in Anspruch genommen wurde. Als der neue Doktor nach vier Jahren in das Vaterhaus zurückkehrte, brachte er einen Schatz von Erinnerungen mit, die ihm sein ganzes späteres Leben verklärten. Denn für die Gebildeten seiner Zeit hatte das akademische Zusammenleben weit höhere Bedeutung, als in der Gegenwart. Wer damals aus dem freien Burschentreiben in die engen Verhältnisse der Heimat kam und in das Amt, welches er sich gewann, der bewahrte nicht nur in seinem Stammbuch die Freundschaftsversicherungen, die Symbola und die kurzen geheimnisvollen Andeutungen fröhlicher »Suiten«, an denen er Teil genommen, sondern auch in seinem Gemüt eine ideale Freundschaft für die Gefährten der schönsten Jahre, welche ihm das Schicksal gegönnt hatte. In einer Zeit, wo das Reisen noch beschwerlich und die Isolierung in dem Wohnort und Beruf viel größer war als jetzt, bildete die Genossenschaft der »Koätanen« einen Verband, welcher sich über die ganze Provinz erstreckte; sie saßen überall in den Städten und auf dem Lande als die kleinen Regenten ihrer Umgebung: Pastoren, Gymnasiallehrer, Juristen und Ärzte; jeder von ihnen wußte genau, wo die anderen hausten und wie es ihnen erging; und wer einmal reisen mußte oder in der Ferne irgendwie Rat und Beistand suchte, war sicher, alte treue Gesellen und bereitwillige Helfer zu finden, die sämtlich den liebsten Genuß darin fanden, bei einem guten Trunk die Freuden und Abenteuer der Studentenjahre immer aufs neue durchzusprechen. Auch ältere und jüngere Jahrgänge der Hallenser Kommilitonen wurden zu dieser stillen Bruderschaft gerechnet, sie hat nicht nur den geselligen Verkehr, auch das Geschäftsleben beeinflußt und nach dem Jahr 1806 sogar einen politischen Zusammenhang gefördert.
Ein Jahr nach seiner Heimkehr ließ sich der Vater als Arzt in der Kreisstadt Kreuzburg nieder. Das Einleben dort wurde ihm durch den Tod des Großvaters erschwert, denn er hatte jetzt um die Verheiratung von Schwestern und für einen jungen Bruder zu sorgen. Der neue Arzt fand in seinem Berufe viel zu tun, nicht nur bei Honoratioren und Bürgern, auch in den Dörfern der Umgegend; die Kranken erinnerten sich gern daran, daß er in irgend welchem Grade zur Verwandtschaft gehörte. Der angestrengteste Teil seiner Tätigkeit aber war jenseit der Landesgrenze. Das Herzogtum Warschau war damals preußisch, dort fehlten die Ärzte, und eilige Boten kamen Tagereisen weit geritten, um in schweren Fällen Hilfe zu holen. Da gab es für den Arzt oft lange Fahrten auf elendem Wege, durch Kieferwald und fußhohen Schnee in federlosen Wagen oder offenen Schlitten, der Reisende saß in einen dicken grauen Mantel oder in die Wildschur gehüllt, den Arzneikasten unter dem Sitz, Säbel und Pistolen zur Seite. Denn die Grenzwälder waren durch streifendes Gesindel unsicher und im Winter durch hungrige Wölfe. Diese unholden polnischen Gäste trabten damals zahlreich und gefürchtet durch die Wälder, sie kamen noch viele Jahre später über die Grenze und umheulten im Winterschnee die Dörfer, und die ersten Wölfe, welche ich als Knabe sah, lagen tot auf einem Karren vor dem Steueramt der Vaterstadt, wo dem Erleger das Schußgeld gezahlt wurde, für den Wolf zehn, für die Wölfin elf Taler. – War der Vater auf dem polnischen Gut angekommen, so fand er zuweilen einen wilden Haushalt und fremdartige Gewohnheiten, und ihm begegnete auch, daß ein störriger Edelmann, dem er einen Trank aus dem Arzneikasten gemischt hatte, die Flasche mißtrauisch betrachtete und frug: »was kostet's?« Als die Antwort nur die wenigen Groschen der Taxe nannte, warf er die Flasche verächtlich in die Stubenecke: »solcher Bettel kann nichts nutzen«. »Dann bin auch ich unnütz,« sagte der Vater und verließ das Haus. – Im Jahre 1807 wurde die Grenze gesperrt und die polnische Praxis doppelt beschwerlich. Für das Land kam eine Zeit des härtesten Druckes und unsäglicher Not, die an der Grenze am meisten gefühlt wurde. Den Städten aber bereitete diese Angstzeit einen großen Fortschritt, die Selbstregierung. Als die Städteordnung in Kreuzburg eingeführt wurde, bot die Bürgerschaft dem Vater das Amt des Bürgermeisters an, und er entschloß sich den neuen Beruf zu übernehmen. Ihm war trotz zehnjähriger Praxis nicht völlig gelungen die Gemütsruhe zu finden, welche der Arzt sich erwerben muß, wenn er nicht unglücklich werden will; vor jedem schweren Fall raubte ihm das Gefühl der Verantwortung die Nachtruhe, und vollends seit dem Kriege schnürten ihm die vielen Szenen von Armut und Not, die er als Arzt durchzumachen hatte, das Herz zusammen. Das neue Amt nahm bald seine ganze Kraft in Anspruch, er hatte nicht nur sich selbst in die Verwaltung, auch seine Bürgerschaft in das Selbstregiment einzugewöhnen; die erhöhten Anforderungen, welche an die Stadt gemacht wurden, die Regelung der Kämmerei, die Tätigkeit der Stadtverordneten, das Polizeiamt gaben viel zu tun. Und kaum war die neue Ordnung wirksam geworden, da kamen das schwere Jahr 1812 und die Freiheitskriege. Sie wurden auch für ihn eine große Zeit hochgespannter Tätigkeit und innerer Erhebung. Ein Jahr lang waren die Lieferungen, welche der Stadt und ihren Dörfern zugemutet wurden, in die Ferne gegangen, jetzt brach der kriegerische Schwall über die Grenze und flutete durch die Stadttore. Den französischen Flüchtlingen folgten russische Vortruppen, Schwärme von Kosaken tummelten sich vor dem Rathause, Baschkiren zündeten auf dem Ringe ihre Lagerfeuer an, ein fremder Heerhaufen drängte den andern, und was der Stadt von dem rohen Volk zugemutet wurde, ging oft über das Mögliche hinaus. Der Landrat des Kreises, ein alter Herr, verließ sich gern auf den Bürgermeister, der unter ihm auch Kommandant des Landsturmes geworden war, und es vergingen Monate, wo die anstrengende Tätigkeit durch Tag und Nacht fast unaufhörlich in Anspruch nahm. Am widerwärtigsten war dabei der Verkehr mit den fremden Verbündeten.
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