Und von der Straße, die durch zwei verfallene Gräben bezeichnet wird, tönt der Ruf des Fuhrmanns, der die müden Pferde unablässig antreibt. Langsam nähert sich der Lastwagen, seine graue Plane überdeckt die Waren, welche der Stadt zufahren, damit die Grenzleute in ihrer Abgelegenheit an den Genüssen der Fremde auch Anteil haben.
Wer aber seitwärts von der Straße in das Feld hinaustritt, dem sinken die niedrigen Dorfhäuser bald zum Horizont hinab und er steht zwischen den Saaten auf einem Grunde, der fast so eben ist wie eine Tenne, ringsum am fernen Rand des Horizonts von dunklem Waldringe umschlossen. Wenn das Auge über die Erde fliegt, so findet es wenig, woran die Blicke haften wollen, hier und da geköpfte Weiden an den Fahrwegen, im Felde selten noch einen wilden Birnbaum und darunter einen kleinen Rasenfleck, wo Feldblumen blühen. Im Laube aber sitzen und schwatzen die Feldsperlinge mit ihren Verwandten. Seit Urzeiten haben ihre Familien auf diesen Bäumen freie Wohnung und freie Nahrung aus der Flur, und sie schreien deshalb in den Zweigen, zanken sich übermütig wie nirgend sonst, und kehren sich wenig an den Menschen, der darunter tritt. Aber wer einige hundert Schritt weiter geht, dem sinkt auch der Baum niederwärts zum Boden hinab und er steht wieder auf der flachen Erdscheibe und sieht über sich die blaue Himmelsglocke mit weißen Wolkenstreifen, welche im großen Bogen von der Erde über ihn reichen und wieder bis zum Waldsaume hinab; er erblickt wenig Erde aber viel Himmel, die Erde rund, der Himmel rund, beide so lichtvoll und in so heiterer Helle, wie nur die weite Ebene im Norden und Osten des deutschen Bodens dem Auge darbietet. Die Weisen lehren seit mehr als hundert Jahren, in den Gebirgen müsse man schöne Landschaften aufsuchen, und das Flachland will niemand rühmen. Wer schauen will, mag in die Berge wandern, aber wer sich wohlfühlen will und heiteres Licht für sein Leben begehrt, der findet es auch dort, wo der Himmel von allen Seiten so tief hinabsteigt, daß der Wechsel seiner Lichter alles wird und die Formen der Erde wenig.
Auf der anderen Seite der Stadt breitet sich eine weite Wasserfläche, die dem Kinderauge unermeßlich scheint, es ist ein großer Teich, gegen die Häuser durch hohen Damm begrenzt. In alter Zeit war das Wasser ein Schutz der Stadt, jetzt liefert es gefällig große Weihnachtskarpfen. Aber nur wenige Jahre staunt der Knabe im Herbst die Männer an, welche mit großen Netzen durch den Schlamm waten. Dann wird die Flut abgeleitet und die weite Fläche in Wiesen und Ackerland verwandelt, der Damm dauert als Spaziergang für die Städter. Auch auf den anderen Seiten läuft um die Stadtmauer und den trockenen Stadtgraben ein Ringwall, er ist zur Hälfte mit starken Holzgerüsten besetzt, den Tuchrahmen, an welchen die Tuchmacher ihre Gewebe aufspannen, und die blauen, grauen und weißen Tuchflächen stechen grell ab von dem grünen Grunde und den alten Ziegelmauern. Aber die Holzrahmen zerfallen in diesen Jahren, die Zahl der Tuchmacher wird kleiner.
Denn das Handwerk in der Stadt hat gegen die Ungunst der Zeit zu kämpfen. Einst waren die Tuchmacher und Strumpfwirker wohlhabende Innungen gewesen, sie webten und wirkten die blauen und weißen Röcke und die bunten Strümpfe für das Landvolk bis weit nach Polen hinein, aber der erschwerte Verkehr mit der Fremde und noch mehr der Beginn der Maschinenarbeit macht ihnen mit jedem Jahre den Verdienst geringer. Noch fehlt das Geld und die Kraft zum größeren Betriebe; die alte Zeit geht zu Ende, der Segen der neuen wird noch nicht sichtbar, es ist eine Periode des Rückganges und der ersten Versuche auf neuen Bahnen, in welche meine Kindheit fällt.
In dieser Stadt wuchs ich herauf, von lieben Eltern gehütet. Was mein Gedächtnis bewahrt hat, sind zuerst einzelne Augenblicke, die gleich Nebelbildern aus dem Dunkel aufleuchten. Der dreijährige Knabe sitzt neben dem Kindermädchen auf einer Bank vor dem Wohnhause der Eltern und sieht erstaunt über sich einen roten Nachthimmel und feurige Lohe, welche um die Dächer der Stadt dahin fährt. Das große Armenhaus steht in hellen Flammen, die über das Dach lodern, der Vater ist mit Spritzen und der Bürgerschaft beim Feuer, die Mutter rafft in der Wohnung mit fliegenden Händen das Wertvolle zusammen, den kleinen Sohn hat man aus dem Bett ins Freie getragen.
Das Armenhaus war damals eine große Bewahrungsanstalt für verkommene Leute, die nicht gerade gefährlich waren. Dort wurden in strenger Hauszucht einige hundert Männer und Frauen unterhalten, für jedermann kenntlich an grünen Tuchröcken, in denen sie an Sonntagen im Zuge nach der Kirche schritten. Zwei Blinde unter ihnen, denen die Hausordnung unerträglich wurde, hatten am späten Abend unter einer Treppe Feuer angelegt und waren dann aus dem Hause geschlichen, um zu entfliehen. Als sie in dem ummauerten Hofraum standen, fragte der eine: »Was aber soll aus der unschuldigen Stadt werden? sie wird bei dem starken Winde auch niederbrennen, die Bürger haben uns nichts zu Leide getan.« Da schritt der andere Blinde, während drinnen der Brandstoff schwälte, dreimal um das ganze Gebäude und sprach einen alten Feuersegen zum Schutz der Stadt, worauf beide durch ein Pförtchen ins Freie entwichen. Aber sie wurden wenige Tage darauf in der Umgegend an ihren grünen Röcken erkannt und gefangen eingebracht; ihr Prozeß, in dem auch der Feuersegen aufbewahrt blieb, wurde ein vielbesprochener Rechtsfall.
Das Gebäude stand bald in hellen Flammen, es brannte drei Tage, aber die Stadt blieb verschont. Da die unteren Treppen zuerst in Brand gerieten, war die Rettung der vielen eingeschlossenen Leute sehr schwierig und es gingen Menschenleben verloren. Die Geretteten aber wurden nicht zur Freude der Stadt für einige Jahre bei Bürgern untergebracht, bis ihnen ein neues Haus erbaut war. Dieses Bild eines Hausbrandes haftete fest in der Seele des Knaben.
Und wieder ein halbes Jahr darauf ist der Kleine am Morgen aufgewacht und findet sich erstaunt in einem fremden Bett, in der Wohnung seines Oheims, die älteren Cousinen stehen bei seinem Lager und erzählen, daß ihm daheim in der Nacht ein kleiner Bruder geboren worden ist. Der neue Weltbürger wird getauft, es sind viel schön gekleidete Leute in der Wohnung der Eltern und der ältere Sohn blickt in eine ungeheuere Düte, die er in der Hand hält, große Erdbeeren von Zucker darin.
Der Knabe trägt die Düte in die leere Nebenstube, kniet nieder und will zum lieben Gott beten für die Eltern und den kleinen Bruder. Aber wunderlich! Während er kniet, kommt ihm vor, als ob das nur Ziererei wäre, er hat ein Gefühl von Leere und von Unehrlichkeit, nimmt seine Düte und steht wieder auf.
Später fühlt der Knabe sich glücklich im Besitze einer roten, gestrickten Mütze, von der er noch jetzt jede Masche und auf dem Deckel das Muster eines großen Sterns sieht. Diese wollene Mütze wird' allgemein bewundert, sie ist bei artigem Gruß nicht leicht abzuziehen, aber sie dehnt sich und dauert, und er trägt sie noch als er mit dem Göckelhahn im Bilderbuch zur Schule geht. Dann hält der Kleine in seinen Händen eine hölzerne Puppe, die Lore, welche ebenso unvergänglich ist, wie die Mütze, sie hat einen harten schweren Kopf, und so oft die Farbe abgerieben ist, weiß die Mutter das Gesicht mit Ölfarbe wieder schön fleischfarben und rot zu malen. Aber die Farbe wird zuletzt uneben und Lore sieht blatternarbig aus zum großen Kummer der Kinder.
Denn ich bin nicht mehr allein.
1 comment