Sie sagten beide ihr »Grieß Gott!« und setzten sich auf Stühle neben der Tür, während der Wirt am Pfosten stehen blieb. Aber als wir kaum die ersten zwölf Takte hinter uns hatten, wurde das Gesicht der Wirtin schon lebendig; sie schlug mit den Händen auf ihre runden Knie und sah aus ihren feurigen Augen liebevoll zu uns herüber. »Wisset Se!« rief sie, da wir eben einen brillanten Schluß gemacht hatten, »mer hent e Hauzich heut im Dorf! Das wär e Fraid, wann Se do singe tätet! 's ischt en alte Liabschaft, 's Bräutigams Vater hot net wolle, und er hat's Guett g'hett; aber jetzt leit er drüben aufm Kirchhof und heut lasset sich de Junge z'sammegebe. Des wär halt schön von dene Herre, wenn mer do so a paar Liedle könnt z'höre kriege! Und a Tänzle? Do werdet Se au nix dagege han!«
Ich sah schon, daß dem Franz die Lust zu Kopfe stieg; auch dem Wirt gefiel der Vorschlag, und beide Eheleute drängten jetzt, wir sollten bleiben. »Nu, nu«, sagte der Ehemann endlich, da keine reine Antwort von uns kam, »verakkordieret's mit enander!« Damit zog er seine Frau zur Tür hinaus, während das Dirnlein sich hinterdrein drängte.
»Das geht nicht«, sagte Marx bestimmt, »um zehn Uhr habe ich Klavierstunde, ich muß nach Haus.«
Franz sagte nichts, aber er saß verdrossen auf dem Sofa und kaute an einem Strohhalm, er konnte sein Gelüsten offenbar noch nicht verwinden.
»Liebster Dirigent«, sagte ich, da auch mir des Abenteuers nun genug schien, »gedenkst du wirklich den fahrenden Sängerorden mit unserem einen Terzett gegen eine ganze Bauernhochzeit aufrechtzuerhalten?«
Er warf den Kopf zurück, und ein sieghaftes Lächeln flog über sein junges Antlitz; denn schwere Schritte und ein Klirren von Tassen und Löffelchen kam draußen die Stiege herauf. »Der Kaffee! Beim Zeus, der Kaffee!« rief er fröhlich; »du hast recht, Nordmann, wir müssen gehen!«
Und da erschien er und erfüllte das Zimmer mit seinem belebenden Morgenduft; eine dicke Magd trug ihn, die Familie folgte. »Nu, ihr Herre!« rief der Wirt, »was hent Se ausg'macht?«
Aber Franz erklärte, nicht ohne Feierlichkeit, daß eine Versammlung der fahrenden Sänger uns auf den Abend unabkömmlich mache.
Die Frau wollte sich nicht zufriedengeben; sie hatte die Augen immer noch auf unsern schmucken Dirigenten; der Wirt aber rief: »Nu, Weib, wenn's emol net sei ka! Schenk dene Herre ihre Schale voll, se hent no en weite Weag z'mached.«
Ich glaube, nimmer noch hat mir ein Kaffee so geschmeckt, wie Wonne zog es mir durch alle Glieder; dann aber fragten wir nach unserer Schuldigkeit.
Die guten Leute wurden fast zornig, als Franz in frevlem Übermut den Finger auf den Tisch stützte und aufrechnend frug: »Drei Portionen Kaffee?«
Mir fiel das Herz dabei völlig – salva venia – in die Hosen; aber, Gott bewahre! Nur für die drei bestellten Pomeranzen, weiter waren wir nichts schuldig!
Unter vielem Dank und Händeschütteln verabschiedeten wir uns, und da wir nachzählten, waren noch fünf Kreuzer in unserer Reisekasse. Wir fühlten endlich, daß wir unsere Kräfte ausgegeben hatten, und gingen ohne viele Worte unseren Weg zurück; nur Franz sagte noch einmal wie zu sich selber: »Neun Kreuzer und ein Terzett!«
Etwa halb zehn Uhr vormittags langten wir in meiner Wohnung an. »Nicht einen Schritt weiter!« rief Franz und warf sich auf mein Sofa; »hier laß ich's nachten und auch wieder tagen!« Ich warf mich, wie ich war, aufs Bett; ich glaube, es war die größte Müdigkeit meines Lebens. »Und du, Marx?« frug ich.
Er saß zusammengesunken auf meinem Klavierbock und sah hundselend aus. »Laß mich noch ein Viertelstündchen!« erwiderte er; »um zehn Uhr muß ich zur Klavierstunde!«
Wir suchten es ihm auszureden, aber er ging wirklich.
Wie ich später von dem Lehrer hörte, hatte er gerade damals vortrefflich gespielt; aber was es ihm an Nervenkapital gekostet, davon hat er nicht geredet. – Franz und ich schliefen, bis am andern Morgen früh die Hähne krähten.
So lebten wir im ersten Jahre miteinander zusammen in frischem Jugendübermut, jeder für sich in gewissenhafter Arbeit, Marx in peinlichster Pflichterfüllung. Im Winter wurde ein größerer Verein gestiftet – »Drehorgel« hieß er –, wo man einmal in der Woche im Wirtshaus zusammenkam; Zweck und Inhalt waren dieselben wie bei unsern kleinen »Versammlungen«, die aber deshalb nicht gestört wurden.
Von den drei Freunden hatte sich derzeit Marx am festesten an mich geschlossen; wir sahen uns fast täglich. Aber er war nicht eben ein bequemer Freund, obgleich er mit fast kindlicher Liebe an mir hing, denn das leiseste Wort konnte ihn verstimmen, er war von krankhafter Reizbarkeit; zumal seine Abhängigkeit von der Meinung anderer über ihn war völlig quälend. War ihm dergleichen zugekommen, dann, wenn er abends nach der Versammlung mich nach Hause geleitete, faßte er krampfhaft meinen Arm, zitterte und knirschte mit den Zähnen und redete unendlich und immer eifriger über die meist recht gleichgültige Sache. »Nicht wahr, du fühlst es! Du, du fühlst es doch auch, daß ich es nicht ertragen kann!« Ich hörte meist geduldig zu, oder mitunter hörte ich auch nicht, oder ich sagte: »Laß doch den Plunder, du könntest dich um drei Kreuzer noch ins Tollhaus reden.« Dann wurde er eine Weile still, aber es half doch nicht. Nie vergesse ich den Abend, da unser gemeinsamer Klavierlehrer, ein wahrer Vater seiner Konservatoristen, ihn in der Nachmittagsstunde, ich weiß nicht mehr wie, auf den Tod sollte beleidigt haben; der Mensch sollte ihm vor die Pistole, der Unterricht zum mindesten sollte aufhören! Ich entsinne mich noch, daß ich schließlich die Nachtklingel an einer Apotheke ziehen mußte, um Brausepulver für ihn zu kaufen, und daß ich ihn in seiner Wohnung selber noch ins Bett packte. Er machte die Sache anderntags auch wirklich beim Direktor anhängig, und der gute Professor schrieb ihm dann: »J'attends Monsieur Marx pour sa leçon de Vendredi, je lui promets de ne pas le manger et d'oublier même sa singulière façon de me mettre à la porte.« – Wir andern lachten, und so war dieser Fall geschlichtet.
Marx hat mir einmal angedeutet, er sei, da er zum Musiker bestimmt gewesen, schon als Kind zu übermäßigem Klavierspiel angetrieben worden, er habe nachher oft seine kleinen Hände nicht stillhalten können; vielleicht lag hier der Urquell dieser Zustände. Überdies trank er den stärksten Kaffee, bevor er sich des Morgens ans Klavier setzte, und rauchte scheußlich schweren Tabak, den er sich in grünen Blättern von einer Muhme in Lahr zu holen pflegte. Nun war in den ersten neuen Frühlingstagen auch noch jener Seufzer: »Linele!«, den wir bei unsrer Sängerfahrt zum ersten Mal von ihm gehört hatten, zu einer vollgerechten Liebschaft ausgewachsen. Allmählich hatte er alles mir anvertraut: die allerliebste Tischlermeistertochter wohnte ihm gerade gegenüber, durch die Fenster hatten sie sich zuerst gesehen, dann angesehen, blutrot und unter starkem Herzschlagen, dann hatten kleine Handbewegungen und Blumentöpfe ein Verständnis vermittelt; er hatte ihr ein Konzertbillett gesandt und, nachdem endlich die ewige Musik zu Ende gewesen, das junge blonde Kind durch manche überflüssige Gassen nach ihrer Wohnung hingeleitet. In sein Notizbuch, das er mir eines Tages aufgeschlagen in die Hand drückte, hatte er das alles deutsch und französisch durcheinander hingeschrieben: »Sa robe flottante résonna comme une harpe éolienne! Und wie ich den schön geformten Arm an meinem Herzen fühlte! Es zitterte mir ins Gehirn hinauf, und alles Denken wurde ausgelöscht. Wenn ich nur wüßte, ob sie gleicherweis empfunden hat!«
Es stand noch mehr in diesem Büchlein: »Am 2. Mai: Ich habe sie geküßt! Es ist zwar nicht zu glauben; aber es ist dennoch wahr.
›Wie kannst mi nur so lieb habe?‹ sagte sie.
›Weshalb nicht? Bist du nicht das süßeste Geschöpf zum Liebhaben?‹
›Ach, i weiß ja, i bin ja gar net schön!‹
Da nahm ich das liebe Wesen und hielt es ein wenig von mir und sah sie an; ich hatte selbst noch nicht daran gedacht. ›Nein, Linele‹ – ihre Augen schienen von meinen Lippen lesen zu wollen – ›schön bist du wohl nicht; aber weißt du, was hübsch ist? Ich glaub, Linele, du bist wunderhübsch!‹
Sie blickte mich ganz verworren an: ›Was sagst, Adolf? des verstand i net.‹
Und das Gesichtel sah so reizend dabei aus.
›Wenn ich es nur versteh, herztausiger Schatz!‹ rief ich fröhlich und küßte sie zum zweiten Mal.
›Ja freili, Adolf; aber jetzt sei brav; gelt?‹
Wo ist das Ende? Je ne pourrai jamais la laisser!«
Aber diese Liebe ließ ihn seine Pflicht niemals versäumen; wie eine Madonna erfüllte das Linele die Phantasie des Liebenden; sie war ihm Antrieb und Wächterin für alles Gute. So konnte denn auch der Handel den nächsten Freunden nicht verborgen bleiben; wenn wir auf sein Zimmer zur Versammlung kamen, unterließ wohl keiner, einen Blick aus dem Fenster zu werfen, ob sich nicht etwa drüben der unschuldige Mädchenkopf bei der Gardine vorbeuge.
– – Es war Mitte Mai, und die Dämmerung war eben angebrochen, als ich mit Franz und Walther zu Marx ins Zimmer trat; er stand vor seiner offenen Schatulle und kramte in einem Pappkasten, in dem er allerlei Zierlichkeiten und Schnurrpfeifereien zu bewahren pflegte; durch das offene Fenster sahen wir drüben die weiße Gardine sich bewegen.
»Was machst du, Marx?« fragte einer.
»Bitte, tretet ein wenig leiser!« sagte er, »ihr sollt mir singen helfen!« Dann nahm er drei kleine mit Rosen bemalte Wachskerzen aus seinem Schatzkasten, zündete sie an und klebte sie vor dem offenen Fenster auf die Fensterbank, wo sie bei der Stille der Luft ruhig weiterbrannten.
»Was sind das für Anstalten?« frug Walther. »Was sollen wir denn singen? Ein Ave Maria?«
Marx hob beschwichtigend seine Hand: »Setz dich ans Klavier, Walther; ihr andern stellt euch neben mich! – ›Es waren!‹« raunte er dann zu Walther hinüber.
Wir wußten Bescheid; wir hatten seit unserer Sängerfahrt außer den »Tropfen von Tau« noch andere Lieder gesungen und brauchten keine Noten. Bald standen wir an Marx' Seite vor dem Fenster, und in gedämpftem Tone klang das alte Lied in den Maiabend hinaus:
Es waren zwei Königskinder,
Die hatten einander so lieb,
Sie konnten beisammen nicht kommen,
Das Wasser war viel zu tief.
»Ach, Liebster, kannst du schwimmen,
So schwimm doch herüber zu mir;
Drei Kerzchen will ich anzünden,
Die sollen leuchten dir!«
Unserem Marx standen die dicken Tränen in den Augen, er war völlig »verturnt«, wie wir zu sagen pflegten; er drückte uns allen krampfhaft die Hand und warf sich dann in eine Sofaecke; drüben aber hatte die Gardine sich nicht mehr geregt.
Seit jenem Abend wurde das
für uns vier zum Signal; wir sangen oder pfiffen es, sei es, daß einer den andern von der Gasse aus zum Spaziergang herabrufen oder ihm sonst nur von dort etwas nach seinem hohen Kämmerlein hinauf zu melden hatte.
So gingen mehrere Monate hin; Marx war von höchstem Fleiße und gewann eine Innerlichkeit des Vortrags, die ich ihm zuvor nicht zugetraut hatte. Zwar im technischen Klavierspiel hatte er, vielleicht infolge jener verfrühten Übungen, mich schon lange überholt; er hatte begonnen, wenn wir allein waren, mir schwierige Sachen ohne Anstoß vorzuspielen; aber es war mir mitunter schwer erträglich geworden, denn ich meinte zu fühlen, daß ihm etwas fehle, das mit dem Kern und Urquell aller Musik zusammenhing, was ich selber in mir trug, aber derzeit wegen mangelnder Technik nicht zum vollen Ausdruck bringen konnte. Bei der Reizbarkeit des Freundes wagte ich lange kein Wort darüber gegen ihn zu äußern; als ich mich später dennoch dazu überwand, gab er es freundlich zu; nur einmal sagte er traurig: »Mais – cela restera, mon ami.«
Jetzt aber wurde alles anders; namentlich mit Chopin ging er in den tiefsten Abgrund.
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