Wie oft saß ich ihm nun zur Seite am Klavier, nur bittend, daß er es noch einmal und noch zum drittenmal spiele; endlich aber, wenn von der Gasse herauf der Wächterruf dazwischenklang, sprang er plötzlich auf, raffte seine Noten zusammen; und mich umarmend, rief er: »Genug, lieb Herze; da ist der Zuberklaus! Wie freut's mich, daß du heut zufrieden warst!« Und ehe ich mich besonnen hatte, war er schon zur Tür hinaus; aber ich stieg doch langsam hintennach, um unten für ihn aufzuschließen. »Es waren zwei Königskinder!« hörte ich ihn dann noch einmal im Fortgehen auf der Gasse pfeifen.
Auch das wurde wieder anders, oder vielmehr, es ging zurück; dieser glückliche Zustand, den ich in Gedanken »Linele« überschrieb, hörte auf. Wenn ich ihn bat, mir vorzuspielen, so hatte er immer einen andern Grund, es abzulehnen, und wenn es einmal geschah, so war es nur das Spiel von früher. Seine Stunden und Vorlesungen besuchte er zwar, aber er tat alles ohne innere Teilnahme; in der »Drehorgel«, wo er in den letzten Monaten am lebhaftesten die Register angezogen hatte, saß er jetzt schweigend mit gestütztem Kopf vor seinem Seidel. Ich sah das eine Zeit mit an; dann faßte ich einmal seine Hand: »Was ist dir, Marx? Du spielst seit einiger Zeit wieder so seelenlos, so wie ein Automat – ja so, als hättest du dein Linele verloren!«
Da fiel er mir um den Hals: »Ich hab sie auch verloren!« Und nun erfuhr ich's denn; seit einigen Wochen hatte das Mädchen den Fenstersitz vermieden; war sie einmal dagewesen, dann hatte sie seine ihr so wohlverständlichen Aufforderungen zu neuen Zusammenkünften mit traurigem Kopfschütteln abgelehnt; in der letzten Woche war sie völlig unsichtbar geblieben.
»Und wo«, frug ich halb neckend, »hatte sie denn ihre Hand, als sie so hübsch ihr blondes Köpfchen schüttelte?«
Seine Augen leuchteten auf, als habe er was Verlorenes gefunden. »Ihre Hand? Ja, die drückte sie auf die Brust.«
»Siehst du«, sagte ich, »das Herz ist noch dasselbe; das andere sind nur Liebesirrwege; du mußt ihr wieder auf den rechten Weg helfen!«
Aber er wollte es nicht zugeben. »Nein, Freund, es ist wie in unserem alten Liede:
Das hört' ein falsches Nönnchen,
Die tät, als wenn sie schlief;
Sie tät die Kerzen auslöschen,
Der Jüngling ertrank so tief.«
Und er starrte düster vor sich hin.
»Marx!« rief ich, »ich fürchte nur, du selber bist das Nönnchen!« Denn er litt wie an prickelndem Ehrgeiz, so auch an einem gesellschaftlichen Hochmut; sein Vater war in den besten Familien ein geschätzter Mann und stand in freundlichem Verkehr mit ihnen; der Sohn hatte oft nicht ohne Gewicht zu mir davon gesprochen. Und jetzt liebte er eine Handwerkerstochter mit der ganzen Heftigkeit seines Wesens; ein sonst tadelloses Mädchen, aber sie sprach nicht ganz richtig Deutsch, sie schwäbelte ein wenig, was zwar von den jungen Lippen lieblich klang; von Französisch gar war ihr Gewissen völlig frei. Schon aus seinem Tagebuch, hatte ich es herausgelesen, daß diese Gegensätze ihn gequält hatten. Wie leicht, bei dem lebhaften Menschen, konnte in ihrer Gegenwart ein Wort darüber ihm entschlüpft sein und eine kühlere Überlegung in dem Mädchen wachgerufen haben.
Ich sagte ihm dies alles, aber er wollte mir nichts zugeben.
Am zweiten Tage danach – ich wußte, er hatte ihr noch einmal geschrieben – hörte ich unter meinem Fenster die »Königskinder« pfeifen. Als ich öffnete, stand Marx auf der Gasse und nickte heiter zu mir herauf.
»Guten Morgen!« rief ich hinab. »Du siehst ja gewaltig fröhlich aus!«
Er nickte: »Sehr!« rief er hinauf. Dann hielt er die hohle Hand an seinen Mund: »Ich – soll« – und er schrieb mit dem Finger ein großes L in die Luft – »heut abend – sehen!«
»Gratuliere!« rief ich; und er nickte wieder und eilte frohen Schritts von dannen.
Es war schon gegen Oktober, an einem Mittwochabend; ich hatte mich eben für die »Drehorgel« angezogen, hatte den Hut schon auf dem Kopf und bürstete nur noch einige Fäserchen von den Kleidern, da stürmte es die Treppe hinauf; meine Tür wurde aufgerissen, und Marx stand vor mir, totenblaß, sagte aber nichts, sondern begann in meinem geräumigen Zimmer auf und ab zu schreiten, knirschte mit den Zähnen, und ich sah, wie seine Finger heftig in der Luft spielten.
»Was ist nun wieder?« rief ich, »hast du sie neulich abends nicht getroffen?«
»Ja, was ist?« sagte er, indem er stehenblieb. »Als ich in den Lauerschen Garten kam, wohin sie mich bestellt hatte, lief ich lang und konnte sie nicht finden. Aber ich fand sie doch; in einem wüsten, vernachlässigten Winkel stand sie neben einer verfallenen Laube und riß wie in Gedanken die gelben Blätter von den Zweigen. Oh, mon ami, sähest du je die Trauer in Augen von sechzehn Jahren? – ›I hab dir was z'sagen, Adolf; deswege bin i komme‹, hob sie zitternd an, aber sie kam nicht weiter, sie brach in bitterliche Tränen aus und sagte dann: ›'s druckt mir's Herz ab, aber i muß, i muß!‹ Sie schwieg; ich wartete umsonst; aber dann plötzlich schlug sie die Arme um meinen Nacken und küßte mich, als ob sie mich ersticken wollte. ›O, Adolf, guck, z' Tod möcht i di drucke und mi selber mit!‹«
Marx begann wieder auf und ab zu gehen. »Wie ich auch in sie drang«, sagte er, »ich bekam an jenem Abend nichts zu wissen. – ›I kann nit, und wenn i sterbe müeßt!‹ rief sie. – Sie hatte mich in die Laube gezogen und den Kopf an meine Brust gelegt. ›Laß mi bei dir sein!‹ sprach sie leise, ›morgen will i dir alles schreibe!‹ Das war das Ende. Aber heute abend, eben – lies! Das hab ich mit der Post bekommen!« Und er griff in die Tasche und warf ein offenes Schreiben vor mir auf den Tisch.
Ich nahm es auf und las; es war von schulmäßiger Mädchenhand geschrieben: »Ich hab gestern Abschied von Dir nommen, Adolf: Du bist mein Einzigs auf der Welt; aber es ging doch so nit meh; Dein Vater ist ein fürnehmer Gelehrter, und ich bin nur ein Meistertochter, das paßt nit z'sammen. – Ich schick Dir auch Dein liebs Bild wieder, das Du mir geschenkt hast; ich darf's nit anschaun mehr. Aber behalt Du meines, ihr Männer habt ja stärkere Natur. Oh, mei Schatz, mei lieber Schatz, und so b'hüt Di Gott viel tausendmal!«
Es war nicht so gar leicht zu lesen, denn statt manchen Wortes war nur eine Tränenspur. »Und um dies liebe Blatt verzweifelst du?« frug ich. »Du siehst nun, daß du selbst dein Nönnchen warst!«
»Was hilft's!« rief er; »sie ist fort, Gott weiß, wohin; zu einer Tante oder Muhme, irgendwohin in der weiten Welt!« Er hatte sich auf einen Stuhl geworfen; nun sprang er wieder auf: »Komm, wir wollen zur ›Drehorgel‹; es soll einen Rausch geben, einen Rausch, der mich die Weiber vergessen läßt, die uns das Herz aus der Brust nehmen und uns dann am Wege liegenlassen!«
»Du solltest lieber zu Bett gehen, als dir einen Rausch trinken!« sagte ich; denn er sah gottsjämmerlich aus.
»Zu Bett?« wiederholte er und knirschte mit den Zähnen. »Ja, in das letzte, um nicht wieder aufzustehen.«
Ich suchte es ihm auszureden; ich wollte mit ihm allein ins Freie gehen, aber er stampfte mit dem Fuße, als ich den entgegengesetzten Weg einzuschlagen suchte.
So gingen wir denn in die »Drehorgel«, die diesmal vollzählig versammelt war. Ich fand Franz und Walther und muß mir den Vorwurf machen, daß ich mich zu ihnen setzte, denn ich wurde so von Marx getrennt, der an ihnen vorbei in eine leere Ecke ging und dort allein an einem Tische Platz nahm. Aber ich hatte das Bedürfnis, eine Weile mit normalen Menschen zu verkehren, und bald auch waren wir in der lebhaftesten Unterhaltung, über das letzte Konzert, über den Chorgesang, über die Modulationslehre, die hier ein halbes Jahr in Anspruch nahm.
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