Das große Haus der Eltern stand jenseits des Bachs unverändert mit der weißen Jahreszahl 1784 auf dem Dach-Schiefer da. – Er lehnte sich mit dem Flötenliede: »Wer nur den lieben Gott läßt walten« an den glatten Maienbaum und blies ins Gebetläuten hinein. Der Vater ging, sehr langsam unter dem Scheine des Umsehens, über den Bachsteg in sein Haus und henkte die Sense an den hölzernen Pflock an der Treppe. Die rüstige Mutter trat aus der Türe in einem Manus-Wamse und schüttete, ohne aufs Flöten zu hören, das abgeblattete Unkraut des Salats aus einem Scheffel, und beide sagten zueinander – wie Land-Gatten pflegen – nichts.

Vult ging ins nachbarliche Wirtshaus. Von dem Wirte erfuhr er, daß der Pfalzgraf Knoll mit dem jungen Harnisch Felder beschaue, weil die Notariusmacherei erst abends angehe. »Trefflich«, dachte Vult, »so wirds immer dunkler, und ich stelle mich ans Backofenfenster und sehe ihrem Kreieren drinnen zu.« Der alte Lukas trat jetzt schon gepudert in einer großblumigen Damastweste an die Türe heraus und wetzte in Hemdärmeln an der Schwelle das Messer für das Souper des Notarius-Schöpfers ab. »Aber das Pürschlein solls auch nicht herausreißen«, setzte der Wirt hinzu, der ein Linker war; »der Alte hat mir seine schöne Branntweinsgerechtigkeit verkauft, und der Sohn hat von der Blase studiert. Aber lieber das Haus sollt' er weggeben, und zwar an einen gescheuten Schenkwirt; sapperment! dem würden Biergäste zufliegen, der Bierhahn wäre Hahn im Korbe, aber ganz natürlich. Denn die Stube hat zweierlei Grenzen, und man könnte darin zuprügeln und kontrebandieren und bliebe doch ein gedeckter Mann.«

Vult nahm keinen so spaßhaften Anteil am Wirte, als er sonst getan hätte; er erstaunte ganz, daß er unter der Hand ordentlich in eine heftige Sehnsucht nach Eltern und Bruder, besonders nach der Mutter hineingeraten war, »was doch«, sagt' er, »auf der ganzen Reise gar nicht mein Fall gewesen«. Es war ihm erwünscht, daß ihn der Wirt beim Ärmel ergriff, um ihm den Pfalzgrafen zu zeigen, der eben in des Schulzen Haus, aber ohne Gottwalt ging; Vult eilte aus seinem, um drüben alles zu sehen.

Draußen fand er das Dorf so voll Dämmerung, daß ihm war, als steck' er selber wieder in der helldunkeln Kinderzeit, und die ältesten Gefühle flatterten unter den Nachtschmetterlingen. Hart am Stege watete er durch den alten lieben Bach, worin er sonst breite Steine aufgezogen, um eine Grundel zu greifen. Er machte einen Bogen-Umweg durch ferne Bauernhöfe, um hinter den Gärten dem Hause in den Rücken zu kommen. Endlich kam er ans Backofenfenster und blickte in die breite zweiherrige Grenzstube – keine Seele war darin, die einer schreienden Grille ausgenommen, Türen und Fenster standen offen; aber alles war in den Stein der Ewigkeit gehauen: der rote Tisch, die roten Wandbänke, die runden Löffel in der hölzernen Wand-Leiste, um den Ofen das Trocken- der tiefe Stubenbalken mit herunterhängenden Kalendern und Herings-Köpfen, alles war über das Meer der langen Zeit, gut eingepackt, ganz und wie neu herübergeführt, auch die alte Dürftigkeit.

Er wollte am Fenster länger empfinden, als er über sich Leute hörte und am Apfelbaum den Lichtschimmer der obern Stube erblickte. Er lief auf den Baum, woran der Vater Treppe und Altan gebaut; und sah nun gerade in die Stube hinein und hatte das ganze Nest.

Darin sah er seine Mutter Veronika mit einer weißen Küchenschürze stehend, eine starke, etwas breite, gesund nachblühende Frau, das stille, scharfe, aber höfliche Weiberauge auf den Hoffiskal gelegt – dieser ruhig sitzend und an seinem breiten Kopfe das Nabel-Gehenke eines Pfeifenkopfes befestigend – der Vater gepudert und im heiligen Abendmahls-Rock unruhig laufend, halb aus achtender Angst vor dem großen eingefleischten corpus juris neben ihm, das gegen Fürsten und alle Welt geradeso keck war als er selber scheu, halb aus sorgender, das corpus nehm' es übel, daß Walt noch fehlte. Am Fenster, das dem Baum und Vulten am nächsten war, saß Goldine, eine bildschöne, aber bucklige Jüdin, auf ihr rotes Knäul niedersehend, woraus sie einen schafwollenen Rotstrumpf strickte; Veronika ernährte die blutarme, aber fein-geschickte Waise, weil Gottwalt sie ungemein liebte und lobte und sie einen kleinen Edelstein hieß, der Fassung brauchte, um nicht verloren zu gehen.

»Der Knecht ist nach dem Spitzbuben ausgeschickt«, versetzte Lukas, als der Fiskal unwillig erzählte, Walt habe nicht einmal seine eignen Felder, geschweige des sel. van der Kabels seine ihm zu zeigen gewußt, sondern ihm einen Fronbauern Kabels dazu hergeholt und sei wie ein Grobian weggeblieben. Vom erfreulichen Testamente, sah Vult, hatte der Fiskal noch kein Wort gesagt.

Auf einmal fuhr Gottwalt in einem Schanzlooper herein, verbeugte sich eckig und eilig vor dem Fiskal und stand stumm da, und helle Freuden-Tränen liefen aus den blauen Augen über sein glühendes Gesicht.

»Was ist dir?« fragte die Mutter. »O meine liebe Mutter (sagt' er sanft), gar nichts. Ich kann mich gleich examinieren lassen.«

– »Und dazu heulst du?« fragte Lukas. Jetzt stieg sein Auge und sein Ton: »Vater, ich habe«, sagte er, »heute einen großen Mann gesehen.« – »So?« versetzte Lukas kühl – »Und hast dich vom großen Kerl wamsen lassen und zudecken? Gut!«

»Ach Gott«, rief er; und wandte sich an die aufmerksame Goldine, um es so dem Examinator mit zu erzählen. Er hatte nämlich oben im Fichtenwäldchen eine haltende Kutsche gefunden und unweit davon am Waldbügel einen bejahrten Mann mit kranken Augen, der die schöne Gegend im Sonnenuntergange ansah. Gottwalt erkannte leicht zwischen dem Manne und dem Kupferstiche eines großen deutschen Schriftstellers – dessen deutscher Name hier bloß griechisch übersetzt werde, in den des Plato – die Ähnlichkeit. »Ich tat«, fuhr er feurig fort, »meinen Hut ab, sah ihn still immerfort an, bis ich vor Entzückung und Liebe weinen mußte. Hätt' er mich angefahren, so hätte ich doch mit seinem Bedienten über ihn viel gesprochen und gefragt. Aber er war ganz sanft und redete mit der süßesten Stimme mich an, ja er fragte nach mir und meinem Leben, ihr Eltern; ich wollt', ich hätt' ein längeres gehabt' um es ihm aufzutun. Aber ich macht' es ganz kurz, um ihn mehr zu vernehmen. Worte, wie süße Bienen, flogen dann von seinen Blumen-Lippen, sie stachen mein Herz mit Amors-Pfeilen wund, sie füllten wieder die Wunden mit Honig aus: O der Liebliche! Ich fühlt' es ordentlich, wie er Gott liebt und jedes Kind. Ach ich möcht' ihn wohl heimlich sehen, wenn er betete, und auch, wenn er selber weinen müßte in einem großen Glück. – Ich fahre sogleich fort«, unterbrach sich Walt, weil er vor Rührung nicht fortfahren konnte; bezwang sie aber etwas leichter, als er umhersah und gar keine sonderliche Fremde fand.

»Er sagte«, fuhr er fort, »die besten Sachen. Gott, sagt' er, gibt in der Natur wie die Orakel die Antwort, eh die Frage getan ist – desgleichen, Goldine: was uns Schwefelregen der Strafe und Hölle deucht, offenbart sich zuletzt als bloßer gelber Blumenstaub eines zukünftigen Flors.