Sie alle sollten ihn sehen, das heißet hören. – Und doch so bescheiden, wie schon gesagt. ›Der Musikdirektor der Sphärenmusik werd ich doch nie‹, sagt' er einst, sich verbeugend die Flöte weglegend, und meinte wahrscheinlich Gott. Jeder konnte mit ihm so frei reden wie mit einem russischen Kaiser, der in Kaiserspracht in die Kulisse von der Bühne kommt und fühlt, daß ihn Kotzebue geschaffen und er diesen. – Er war herzensgut und voll Liebe, nur aber zu aufgebracht auf sämtliche Menschen. Ich weiß, daß er Fliegen, die ihn plagten, einen Flügel auszupfte und sie auf die Stube warf mit den Worten: ›Kriecht! die Stube ist für euch und mich weit genug‹, indes er gleichwohl mehreren ältlichen Herren ins Gesicht sagte, sie wären siebenfache Spitzbuben, alte, obwohl in Milch eingeweichte Heringe, die sich dadurch für frische gäben; inzwischen, setzt' er sogleich dazu, er hoffe, sie deuteten ihn nicht falsch, und bewies ihnen jede Artigkeit. – Unsere erste Bekanntschaft machte sich, als er von einer fürstlichen Versteigerung herkam und einen erstandenen Nachttopf aus Silber öffentlich so närrisch vor sich her- und heimtrug, daß jede Gasse stutzig wurde, wodurch er ging. – Ich wollte, er wäre mit hier und besuchte die Seinigen. – Ich habe eine so besondere Liebhaberei für die Harnische, als meine Namensvettern, daß ich sogar im Leipziger Reichsanzeiger mir ihren Stammbaum und Stammwald bestimmt ausbat ohne Effekt.«

Jetzt schied er kurz und höflich und ging auf sein Zimmer, nachdem er bei allem milden Scheine eines Mannes von Welt den ganzen Tag alles getan, was er gewollt. Er roch ohne Anstand an Fensterblumen vorübergehend; – er rückte auf dem Markte einem bettelnden Judenjungen seinen schlechten Bettel-Stil vor und zeigte ihm öffentlich, wie er anzuhalten habe – er setzte seinen französischen Paß in keinen deutschen um, bloß deshalb, um unter dem Stadttore die sämtliche Torschreiberei dadurch in Zank und Buchstabieren zu verflechten, indes er still dabei wartete und sagte, er steife sich auf seinen Paß – und am ersten Tage machte er den Scherz der Zauberschlägerei, von welcher oben der Wirt dem Kandidaten ins Ohr erzählt hatte. Er wußte nämlich ganz allein in seinem Zimmer ein solches Kunst-Geräusch zu erregen, daß es die vorübergehende Scharwache hörte und schwur, eine Schlägerei zwischen fünf Mann falle im zweiten Stocke vor; als sie straffertig hinaufeilte und die Türe aufriß, drehte sich Quod Deus Vult vor dem Rasierspiegel mit eingeseiftem Gesichte ganz verwundert halb um und fragte, indem er das Messer hoch hielt, verdrüßlich, ob man etwas suche; – ja nachts repetierte er die akustische Schlägerei und fuhr die hineinguckende Obrigkeit aus dem Bette schlaftrunken mit den Worten an: »Wer Henker steht draußen und stört die Menschen im ersten Schlafe?«

Dies alles kam daher, daß er in jeder kleinen Stadt zuerst den Regimentsstab wenig schätzte, dann Obrigkeit und Hof, etwa Bürger aber mehr. Bei einer solchen in Lustigkeit eingekleideten Verachtung konnt' ers nicht von sich erhalten, sich den Kleinstädtern, die ihn in seinen glänzenden Tagen unter Großstädtern nicht gesehen, in diesen überwölkten als Bauerssohn aus Elterlein zu zeigen; lieber adelte er sich selber eigenhändig.

Nach Haßlau war er nur gekommen, um ein Konzert zu geben, dann nach Elterlein zu laufen und Eltern und Geschwister inkognito zu sehen, aber durchaus ungesehen. Unmöglich wars ihm, daß er nach einem Dezennium Abwesenheit, worin er über so viele europäische Städte wie eine elektrische Korkspinne, ohne zu spinnen und zu fangen, gesprungen war, wieder vor seinen dürftigen Eltern erscheinen sollte, aber nämlich, o Himmel, als was?

Als dürftiger Querpfeifer in langer Strumpfhose, gelbem Studentenkollet und grünem Reisehut und mit nichts in der Tasche (wenige Spezies ausgenommen) als mit einem Spiel gesiegelter Entrée-Karten für künftige Flötenkonzerte? – »Nein«, sagt' er, »eh' ich das täte, lieber wollt' ich täglich Essig aus Kupfer trinken, oder eine Fischotter an meiner Brust großsäugen, oder eine kantianische Messe lesen oder hören, eine Ostermesse«. Denn wenn er auch zuletzt den phantastischen Vater endlich zu überwältigen hoffen konnte durch einige Musik-Stunden und durch Erzählungen aus fremden Ländern: so blieb doch die unbestechliche Mutter unverändert übrig mit ihren kalten hellen Augen, mit ihren eindringenden Fragen, die seine Vergangenheit samt seiner Zukunft unerbittlich zergliederten.

Aber jetzt seit dem Abend und hundert andern Stunden hatte sich alles in ihm verändert – aus dem fremden Zimmer brachte er die ruhige Oberfläche und eine bewegte Tiefe in das seinige hinauf. – Walts Liebe gegen ihn hatt' ihn ordentlich angegriffen – dessen poetische Morgensonne wollt' er ganz nahe besehen und drehen und an ihre Achse Erddiameter und an ihre Kraft Licht- und Wärme-Messer anlegen- Kabels Testament gab dem Poeten noch mehr Gewicht – – Kurz, Vult konnte kaum den künftigen Tag erwarten, um nach Elterlein zu laufen, heimlich Walts Notariats-Examen zu behorchen und alle zu beschauen und am Ende sich dem Bruder zu entdecken, wenn ers verdiente. Mit welcher Ungeduld der gegenwärtige Schreiber auf den offiziellen, den Helden endlich aus seinen tiefen Spiegeln hervorziehenden Bericht des folgenden Kapitels mag gepasset haben, ermesse die Welt aus ihrer.

 

Nr. 7. Violenstein

 

Kindheits-Dörfchen – der große Mann

 

Vult van der Harnisch reisete aus der Haßlauer Vorstadt nach Elterlein aus, als die halbe Sonne noch frisch und waagrecht über die tauige Fluren-Welt hinblitzte. Die Sonne war aus den Zwillingen in den Krebs getreten; er fand Ähnlichkeiten und dachte, er sei unter den vieren der Zwilling, der am stärksten glühe, des gleichen der zweite Krebs. In der Tat hatte schon in der Bergstadt Elterlein bei Annaberg seine Sehnsucht nach dem gleichnamigen Geburtsdorf angefangen und zugenommen auf allen Gassen; schon ein gleichnamiger Mensch, wieviel mehr ein gleichnamiger Ort drängt sich warm ins Herz. Auf der lebendigen Haßlauer Straße – die ein verlängerter Markt schien – nahm er seine Flöte heraus und warf allen Passagiers durch Flötenansätze Konzertansätze entgegen und nach, schnappte aber häufig in guten Koloraturen und in bösen Dissonanzen ab und suchte sein Schnupftuch oder sah sich ruhig um. Die Landschaft stieg bald rüstig auf und ab, bald zerlief sie in ein breites ebenes Grasmeer, worin Kornfluren und Raine die Wellen vorstellten und Baumklumpen die Schiffe. Rechts in Osten lief wie eine hohe Nebelküste die ferne Bergkette von Pestitz mit, links in Abend floß die Welt eben hinab, gleichsam den Abendröten nach.

Da Vult erst nachts anzulangen brauchte, so hielt er sich überall auf. Seine Sanduhr der Julius-Tagszeiten waren die gemähten Wiesen, eine Linnäische Blumenuhr aus Gras: stehendes zeigte auf 4 Uhr morgens – liegendes auf 5 bis 7 – zusammengeharkte Ameishaufen daraus auf 10 Uhr – Hügel aus Heu auf 3 – Berge auf den Abend. Aber er sah auf dieses Zifferblatt der Arbeitsidylle an diesem Tag zum erstenmal, so sehr hatten bisher die langen Fußreisen das übersättigte Auge blind gemacht.

Eben da der Hügel in dieser Sanduhr am höchsten anlief: so zogen sich die Kirsch- und Apfelbäume wie die Abend-Schatten lang dahin – runde grüne Obstfolgen wurden häufiger – in einem Tale lief schon als dunkle Linie das Bächlein, das durch Elterlein hüpft – vor ihm grünte auf einem Hügel, von der Abendsonne golden durchschlagen, das runde dünne Fichtengehölz, woraus die Bretter seiner Wiege geschnitten waren, und worin man oben gerade in das Dorf hinuntersah.

Er lief ins Gehölz und dessen schwimmendes Sonnen-Gold hinein, für ihn eine Kinder-Aurora. Jetzt schlug die wohlbekannte kleinliche Dorfglocke aus, und der Stundenton fuhr so tief in die Zeit und in seine Seele hinunter, daß ihm war, als sei er ein Knabe, und jetzt sei Feierabend; und noch schöner läuteten ihn die Viehglocken in ein Rosenfest.

Die einzelnen rotweißen Häuser schwankten durch die besonnten Baumstämme. Endlich sah er draußen das traute Elterlein dem Hügel zu Füßen liegen – ihm gegenüber standen die Glocken des weißen Schieferturms und die Fahne des Maienbaums und das hohe Schloß auf dem runden Wall voll Bäume – unten liefen die Poststraßen und der Bach breit durchs offne Dorf – auf beiden Seiten standen die Häuser einzeln, jedes mit seiner Ehrenwache von Fruchtstämmen – um das Dörfchen schlang sich ein Lustlager von Heu-Hügeln wie von Zelten und von Wagen und Leuten herum, und über dasselbe hinaus brannten fettgelbe Rübsenflächen für Bienen und Öl heiter dem Auge entgegen.

Als er von diesem Grenzhügel des Gelobten Kinderlandes hinunterstieg, hört' er hinter den Stauden in einer Wiese eine bekannte Stimme sagen: »Leute, Leute, sponselt doch euer Vieh; hab ichs nicht schon so millionenmal anbefohlen? – Bube, sage zu Hause, der Gerichtsmann hat gesagt, morgen wird ungesäumt mit zwei Mann gefront, auf der Klosterwiese.« Es war sein Vater; der mattäugige, schmächtige, bleichfarbige Mann (in dessen Gesicht der warme Heu-Tag noch einige weiße Farbenkörner mehr gesäet) schritt mit einer leuchtenden Sense auf der Achsel aus den Rainen in die Straße herein. Vult mußte umblicken, um nicht erblickt zu werden, und ließ den Vater voraus. Dann fiel er ihm mit einigen klingenden Paradiesen der Flöte, und zwar – weil er wußte, wie ihm Chorale schmeckten – mit diesen in den Rücken.

Lukas schritt noch träger fort, um länger zurückzuhören – und die ganze Welt war hübsch. Braune Dirnen mit schwarzen Augen und weißen Zähnen setzten die Grassicheln an die Augenbraunen, um den vorbeipfeifenden Studenten ungeblendet zu sehen – die Viehhirtinnen zogen mit ihren Wandel-Glöckchen auf beiden Seiten mit – Lukas schneuzte sich, weil ihn der Choral bewegte, und sah ein ungesponseltes Weide-Pferd nur ernsthaft an – aus den Schornsteinen des Schlosses und Pfarrhauses und des väterlichen hoben sich vergoldete Rauchsäulen ins windstille kühle Blau –

Und so kam Vult ins überschattete Elterlein hinab, wo er das närrische verhüllte träumende Ding, das bekannte Leben, den langen Traum, angehoben, und wo er im Bette zu diesem Traum, weil er erst ein kurzer Knabe war, sich noch nicht hatte zu krümmen gebraucht.

Im Dorfe war das Alte das Alte.