Nur ein weinendes Auge hatte Goldine mit dem Tuche bedeckt, um mit dem andern nachzublicken, und sagte: »es geh' ihm gut!« und ging langsam in sein leeres Studierstübchen hinauf.
Vult eilte dem reitenden Bruder nach. Als er aber vor dem Maienbaume des Dorfes vorüberging und am Fenster die schönäugige Goldine und im Hausgärtchen die einsame Mutter erblickte, die mit tropfenden Augen, noch im Sitzen gebückt, große Bohnen steckte und Knoblauch band: so überströmte seines Bruders warmes mildes Blut plötzlich sein Herz, und er lehnte sich an den Baum und blies einen Kirchenchoral, damit beider Augen sich süßer löseten und ihr Gemüt aufginge; denn er hatte an beiden den kecken scharfen Seelen-Umriß innigst wert gewonnen.
Es war schade, daß der Notarius, der samt dem Schimmel auf Wiesenflächen zwischen grünschimmernden Hügeln, im blauen wehenden Tage flog, es nicht wußte, daß hinter ihm sein Bruder sein fernes Dörfchen und gerührte liebe Herzen mit Echos erfülle. Oben auf einem Berge legte Walt sich auf den Hals des Flugpferds, um aus dem Ohr die Druckkugel zu graben. Da er sie erwischt hatte: so trat das Tier wieder gesetzter einher als ein Mensch hinter einer Leiche; und nur der Berg schob es herunter, und in der Ebene ging es, wie ein silberner glatter Fluß, unmerklich weiter.
Jetzt genoß der zur Ruhe gesetzte Notarius ganz seine sitzende Lebensart auf dem Sattel und den weiten singenden Tag. Sein hoher Aufenthalt auf der Sattelwarte stellte ihm, diesem ewigen Fußgänger, alle Berge und Auen unter ihn, und er regierte die glänzende Gegend. An einer neuen Anhöhe stieg ein Wagenzug von sieben Fuhrleuten auf, den er gern zu Pferde eingeholt und überritten hätte, um nicht in seinen Träumen durch ihr Umschauen gestört zu werden; aber am Hügel-Fuße wollte der gerittene Blondin so gut die Natur genießen – die für ihn in Gras bestand – als der reitende und stand sehr fest. Walt setzte sich zwar anfangs dargegen und stark, wirkte auf viele Seiten des Viehs vor- und rückwärts; aber da es auf dem Feststehen bestand, ließ ers fressen und setzte sich selber herum auf dem Sattel, um die ausgedehnte Natur hinter sich mit seligen Blicken auszumessen und gelegentlich diese sieben spöttischen Fuhr-Hemden so weit vorauszulassen, daß ihnen nicht mehr unter die Augen nachzureiten war.
Am Ende kommt doch eines, ein Ende –, der Bereiter wünschte am Hügelfuße, als er sich wieder vorwärts gesetzt, sich herzlich von der Stelle und etwa hinauf; denn die sieben Plejaden mußten nun längst untergegangen sein. Auch sah er den netten Studenten nachkommen, der das Besteigen gesehen. Aber setzte irgend jemand besondern Wert auf Ernte-Ferien, so tats der Schimmel –, vor solcher Anhöhe vollends stand er im Drachenschwanz, im aufsteigenden Knoten – die Zäume, die Fußbälle auf der Erde, alle brachten ihn nicht vorwärts. Da nun der Notar auch die lebendige Quecksilberkugel jetzt nicht wieder mit diesem fixierten weißen Merkurius verquicken wollte – wegen der unglaublichen Mühe, sie aus dem Ohr zu fischen –: so saß er lieber ab und spannte sich seiner eigenen Vorspann vor, indem er sie durch den Flaschenzug des Zügels wirklich hinaufwand. Oben blühte frische Not: hinter sich sah er eine lange katholische Wallfahrt nachschleichen, gerade vor sich unten im langen Dorfe die böse Fuhr-Sieben trinken und tränken, die er einholen mußte, er mochte wollen oder nicht.
Es grünte ihm auf der andern Seite Hoffnung, aber fruchtlos; er hatte Aussichten, durch des Kleppers Allegro ma non troppo den haltenden Fuhrleuten ziemlich vorzusprengen; er ritt erheitert in starkem Schritt den Berg hinab, ins Dorf hinein; – aber da kehrte das Filial-Pferd ohne sonderliches Disputieren ein, es kannte den Wirt, jeder Krug war seine Tochter-, jeder Gasthof seine Mutterkirche. »Gut, gut«, sagte der Notar, »anfangs wars ja selber mein Gedanke« – und befahl unbestimmt einem Unbestimmten, dem Gaule etwas zu geben. Jetzt kam auch der flinke Grünhut nach. Vults Herz wallete auf vor Liebe, da er sah, wie der erhitzte schöne Bruder von der schneeweißen Bogenstirn den Hut lüftete, und wie im Morgenwehen seine Locken das zarte, mit Rosenblute durchgossene kindliche Gesicht anflatterten, und wie seine Augen so liebend und anspruchlos auf alle Menschen sanken, sogar auf das Siebengestirn. Gleichwohl konnte Vult den Spott über das Pferd nicht lassen: »Der Gaul«, sagt' er, mit seinen schwarzen Augen auf den Bruder blitzend und die Mähne streichelnd, »geht besser, als er aussieht; wie ein Musenpferd schwang er sich über das Dorf.« – »Ach das arme Tier!« sagte Walt mitleidig und entwaffnete Vulten.
Sämtliche Passagiere tranken im Freien – die Pilgrime gingen singend durchs Dorf – alle Tiere auf dem Dorfe und in der Luft wieherten und kräheten vor Lust – der kühlende Nordost durchblätterte den Obstgarten und rauschte allen gesunden Herzen zu: weiter hinaus ins freie weite Leben! – »Ein sehr göttlicher Tag«, sagte Vult, »verzeihen Sie, mein Herr!« Walt sah ihn blöde an und sagte doch heftig: »O gewiß, mein Herr! Die ganze Natur stimmt ordentlich ein jubelndes herzerfrischendes Jagdlied an, und aus den blauen Höhen tönen doch auch sanfte Alphörner herunter.«
Da hingen die Fuhrleute die Gebisse wieder ein. Er zahlte schnell, nahm den Überschuß nicht an und saß im Wirrwarr auf, willens, allen vorzufliegen. Es ist ein Grundsatz der Pferde, gleich den Planeten nur in der Sonnen-Nähe eines Wirtshauses schnell zu gehen, aber langsam daraus weg ins Aphelium; der Schimmel heftete seine vier Fuß-Wurzeln als Stifte eines Nürnberger Spielpferdes fest ins lackierte Brett der Erde und behauptete seinen Ankerplatz. Der bewegte Zaum war nur sein Ankertau fremde leidenschaftliche Bewegung setzt' ihn in eigne nicht – umsonst schnalzte der leichte Reiter in grün-atlassener Weste und mit braunen Hutflammen, er konnte ebensogut den Sattel über einen Bergrücken geschnallet haben und diesen spornen.
Einige der sanftesten Fuhrleute bestrichen die Hinterbeine des Quietisten; er hob sie, aber ohne vordere. Lange genug hatte nun Walt auf sein Mitleiden gegen das Vieh gehört; jetzt warf er ohne weiters dem Trauerpferd den Schusser ins Ohr – die Kugel konnte die Massa, den Queue fortstoßen ins grüne Billard. Walt flog. Er rauschte schnell dicht hinter der Hühner-Kette von Pilgern, die scheu auseinanderspritzte, bis leider auf eine an der Spitze gehende taube Vorsängerin, die Reiten und Warnen nicht vernahm – umsonst zupften seine sterbenden Finger voll Todesnot im Ohr und wollten Kugelzieher sein – seine fliegende Kniescheibe rannte an ihr Schulterblatt und warf sie um – sie erstand schleunigst, um frühe genug, unterstützt von allen ihren Konfessions-Verwandten, ihm über alle Beschreibung nachzufluchen. Weit hinter dem Fluchen bracht' er nach langer Ballotage die Glücks-und Unglückskugel zwischen dem Daumen und Zeigefinger heraus, teuer schwörend, nie dieses Oberons-Horn mehr anzusetzen.
Wenn er freilich jetzt die Bestie wie eine Harmonika traktierte, nämlich langsam – so daß jeder die größten Schulden auf ihr absitzen konnte, sogar ein Staat, wenns anders für diesen einen andern Schuldturm geben könnte außer dem Babelturm –: so wär' es wohl gegangen, hätt' er sich nicht umgedreht und gesehen, was hinter seiner Statua equestris und curulis zog; ein Heer, sah er, setz' ihm hitzig mit und ohne Wagen nach, Pilger voll Flüche, sieben weiße Weisen voll Spaß und der Student. Der menschliche Verstand muß sehr irren oder an dem, was er nachher tat, hatte die Vermutung aus dem Vorigen großen Teil, daß der nachschwimmende Hintergrund nicht nur seinen Durchgang durch ein Rotes Meer erzwingen, sondern daß sogar das Meer selber mit ihm gehen würde; weil er auf seinem lebendigen Laufstuhl niemand zu entrinnen vermochte. Schon das bloße Zurückdenken an den Nachtrab mußte wie Lärmtrommeln in die schönsten leisen Klänge fahren, die er jetzt am blauesten Tage aus den Himmels-Sphären seiner Phantasie leicht herunterhören konnte.
Deshalb ritt er geradezu aus der Landstraße über Wiesen in eine Schäferei hinein, wo er halb gleichgültig gegen lächerlichen Schein, halb mit errötender Ruhmliebe – für Geld, gute Worte und sanfte Augen – es sich von der Schäferin erbat, daß dem Schimmel so lange – denn er verstand nichts von Roß-Diätetik – Heu vorgesetzet würde, bis etwan die Feinde sich eine Stunde voraus und ihn mathematisch gewiß gemacht hätten, daß sie nicht zu ereilen wären, gesetzt auch, sie fütterten zwei Stunden.
So neu-selig und erlöset setzt' er sich hinter das Haus unter eine schwarzgrüne Linde in den frischen Schatten-Winter und tauchte sein Auge still in den Glanz der grünen Berge, in die Nacht des tiefens Äthers und in den Schnee der Silberwölkchen. Darauf stieg er nach seiner alten Weise über die Gartenmauer der Zukunft und schauete in sein Paradies hinein: welche volle rote Blumen und welches weiße Blütengestöber füllte den Garten!
Endlich – nach einer und der andern Himmelfahrt – machte er drei Streckverse, einen über den Tod, einen über einen Kinderball und einen über eine Sonnenblume und Nachtviole. Kaum wollte er, da das Pferd Heu genug hatte, von der kühlen Linde fort; er entschloß sich, heute nicht weiter zu reisen als nach dem sogenannten Wirtshaus zum Wirtshaus, eine kleine Meile von der Stadt. Indes eben in diesem Wirtshaus hatten alle seine Feinde um 1 Uhr halt und Mittag gemacht; und sein Bruder war dageblieben, um ihn zu erwarten, weil er wußte, daß die Landstraße und der Schimmel und Bruder durch den Hof liefen. Vult mußte lange passen und seine Gedanken über die nächsten Gegenstände haben, z.B. über den Wirt, einen Herrnhuter, der auf sein Schild nichts weiter malen lassen als wieder ein Wirtshausschild mit einem ähnlichen Schild, auf dem wieder das gleiche stand; es ist das die jetzige Philosophie des Witzes, die, wenn der ähnliche Witz der Philosophie das Ich-Subjekt zum Objekt und umgekehrt macht, ebenso dessen Ideen sub-objektiv widerscheinen lässet; z.B. ich bin tiefsinnig und schwer, wenn ich sage: Ich rezensiere die Rezension einer Rezension vom Rezensieren des Rezensierens, oder ich reflektiere auf das Reflektieren auf die Reflexion einer Reflexion über eine Bürste.
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