Hätte Vult zehn Meilen umher nach einem schönen Postamente für eine Gruppezwillings-brüderlicher Erkennung gesucht, ein besseres hätt' er schwerlich aufgetrieben, als der Herrnhuter Totengarten war mit seinen flachen Beeten, worin Gärtner aus Amerika, Asia und Barby gesäet waren, die sich alle aufeinander mit dem schönen Lebens-Endreim »heimgegangen« reimten. Wie schön war hier der Knochenbau des Todes in Jugend-Fleisch gekleidet und der letzte blasse Schlaf mit Blüten und Blättern zugedeckt! Um jedes stille Beet mit seinem Saat-Herzen lebten treue Bäume, und die ganze lebendige Natur sah mit ihrem jungen Angesicht herein.

Vult, der jetzt noch ernster geworden, freuete sich, daß er aller Wahrscheinlichkeit nach vor keinem Kenner zu blasen habe, weil seine Brust, solcher Erschütterungen ungewohnt, heute nicht genug Atem für sein Spiel behielt. Er stellte sich weg vom Bruder, gegenüber der strahlenlosen Abendsonne, an einen Kirschbaum, aus welchem das Brust- und Halsgeschmeide eines blühenden Jelängerjelieber wie eigne Blüte hing; und blies statt der schwersten Flöten-Passaden nur solche einfache Ariosos nebst einigen eingestreueten Echos ab, wovon er glauben durfte, daß sie ins unerzogne Ohr eines juristischen Kandidaten mit dem größten Glanz und Freuden-Gefolge ziehen würden.

Sie tatens auch. Immer langsamer ging Gottwalt, mit einem langen Kirschzweige in der Hand, zwischen der Morgen- und Abend-Gegend auf und nieder. Seliger als nie in seinem trocknen Leben war er, als er auf die liebäugelnde Rosen-Sonne losging und über ein breites goldgrünes Land mit Turmspitzen in Obstwäldern und in das glatte weiße Mutterdorf der schlafenden stummen Kolonisten im Garten hineinsah, und wenn dann die Zephyre der Melodien die duftige Landschaft wehend aufzublättern und zu bewegen schienen. Kehrt' er sich um, mit gefärbtem Blick, nach dem Osthimmel und sah die Ebene voll grüner auf- und ablaufender Hügel wie Landhäuser und Rotunden stehen und den Schwung der Laubholzwälder auf den fernen Bergen und den Himmel in ihre Windungen eingesenkt: so lagen und spielten die Töne wieder drüben auf den roten Höhen und zuckten in den vergoldeten Vögeln, die wie Aurorens Flocken umherschwammen, und weckten an einer düstern schlafenden Morgenwolke die lebendigen Blicke aufgehender Blitze auf. Vom Gewitter wandt' er sich wieder gegen das vielfarbige Sonnenland – ein Wehen von Osten trug die Töne – schwamm mit ihnen an die Sonne – auf den blühenden Abendwolken sang das kleine Echo, das liebliche Kind, die Spiele leise nach. – Die Lieder der Lerchen flogen gaukelnd dazwischen und störten nichts. –

Jetzt brannte und zitterte in zartem Umriß eine Obstallee durchsichtig und riesenhaft in der Abendglut – schwer und schlummernd schwamm die Sonne auf ihrem Meer- es zog sie hinunter ihr goldner Heiligenschein glühte fort im leeren Blau und die Echotöne schwebten und starben auf dem Glanz: Da kehrte sich jetzt Vult, mit der Flöte am Munde, nach dem Bruder um und sah es, wie er hinter ihm stand, von den Scharlachflügeln der Abendröte und der gerührten Entzückung überdeckt und mit blödem stillen Weinen im blauen Auge. – Die heilige Musik zeigt den Menschen eine Vergangenheit und eine Zukunft, die sie nie erleben. Auch dem Flötenspieler quoll jetzt die Brust voll von ungestümer Liebe. Walt schrieb sie bloß den Tönen zu, rückte aber wild und voll lauterer Liebe die schöpferische Hand. Vult sah ihn scharf an, wie fragend. »Auch an meinen Bruder denk' ich«, sagte Walt; »und wie sollt' ich mich jetzt nicht nach ihm sehnen?«

Nun warf Vult kopfschüttelnd die Flöte weg – ergriff ihn hielt ihn von sich, da er ihn umarmen wollte – – sah ihm brennend ins fromme Gesicht und sagte: »Gottwalt, kennst du mich nicht mehr? Ich bin ja der Bruder.« – »Du? O schöner Himmel! – Und du bist mein Bruder Vult?« schrie Walt und stürzte an ihn. Sie weinten lange. Es donnerte sanft im Morgen. »Höre unsern guten Allgütigen!« sagte Walt. Der Bruder antwortete nichts. Ohne weitere Worte gingen beide langsam Hand in Hand aus dem Gottesacker.

 

Nr. 14. Modell eines Hebammenstuhls

 

Projekt der Äthermühle – der Zauberabend

 

Für zwei luftige Komödianten, die den Orest und Pylades sich einander abhören, mußte jeder beide halten, der ihnen aus dem Wirtshaus nachsah, wie sie unten in einer abgemähten Wiese sich in Lauf-Zirkeln umtrieben, mit langen Zweigen in der Hand, um ihre Vergangenheiten gegeneinander auszutauschen. Aber der Tausch war zu schwer. Der Flötenspieler versicherte, sein Reiseroman – so künstlich gespielt auf dem breiten Europa – so niedlich durchflochten mit den seltensten confessions – stets von neuem gehoben durch die Windlade und Hebemaschine der Flûte de travers – wäre zwar für die Magdeburger Zenturiatoren, wenn sie ihm nachschreibend nachgezogen wären, ein Stoff und Fund gewesen, aber nicht für ihn jetzt, der dem Bruder andere Sachen zu sagen habe, besonders zu fragen, besonders über dessen Leben. Etwas von dieser Kürze mocht' ihm auch der Gedanke diktieren, daß in seiner Geschichte Kapitel vorkämen, welche die herzliche Zuneigung, womit der unschuldige, ihn freudig beschauende Jüngling seine erwiderte, in einem so weltunerfahrnen reinen Gemüte eben nicht vermehren könnten; er merkte an sich – da man auf Reisen unverschämt ist –, er sei fast zu Hause.

Walts Lebens-Roman hingegen wäre schnell in einen Universitätsroman zusammengeschrumpft, den er zu Hause auf dem Sessel spielte durch Lesen der Romane, und seine Acta eruditorum in den Gang eingelaufen, den er in den Hörsaal machte und zurück in sein viertes Stockwerk – wenn nicht das van der Kabelsche Testament gewesen wäre; aber durch dieses hob sich der Notar mit seiner Geschichte.

Er wollte den Bruder mit den Notizen davon überraschen; aber dieser versicherte, er wisse schon alles, sei gestern beim Examen gewesen und unter dem Zanke auf dem Pelzapfelbaum gesessen.

Der Notar glühte schamrot, daß Vult seinen Zorn-Kaskatellen und seinen Versen zugehorcht; – er sei wohl, fragt' er verwirrt' schon mit dem Hrn. van der Harnisch angekommen, der mit dem Kandidaten von ihm gesprochen. »Jawohl«, sagte Vult, »denn ich bin jener Edelmann selber.« Walt mußte fortstaunen und fortfragen, wer ihm denn den Adel gegeben. »Ich an Kaisers-Statt«, versetzte dieser, »gleichsam so als augenblicklicher sächsischer Reichsvikarius des guten Kaisers; es ist freilich nur Vikariats-Adel.« – Walt schüttelte moralisch den Kopf. »Und nicht einmal der«, sagte Vult, »sondern etwas ganz Erlaubtes nach Wiarda6, welcher sagt, man könne ohne Bedenken ein ›von‹ entweder vor den Ort oder auch vor den Vater setzen, von welchem man komme; ich konnte mich nach ihm ebensogut Herr von Elterlein umtaufen als Herr von Harnisch. Nennt mich einer gnädiger Herr, so weiß ich schon, daß ich einen Wiener höre, der jeden bürgerlichen Gentlemen so anspricht, und lass' ihm gern seine so unschuldige Sitte.«

»Aber du konntest es gestern aushalten«, sagte Walt, »die Eltern zu sehen und den Jammer der Mutter unter dem Essen über dein Schicksal zu hören, ohne herab und hinein an die besorgten Herzen zu stürzen?«

»So lange saß ich nicht auf dem Baume – – Walt«, sagt' er, plötzlich vor ihn vorspringend – »Sieh mich an! Wie Leute gewöhnlich sonst aus ihren Not- und Ehrenzügen durch Europa heimkommen, besonders wie morsch, wie zerschabt, wie zerschossen gleich Fahnen, braucht dir wohl niemand bei deiner ausgedehnten Lektüre lange zu sagen; – ob es gleich sehr erläutert würde, wenn man dir dazu einen Fahnenträger dieser Art – dir unbekannt, aber aus einem altgräflichen Hause gebürtig und dessen Ahnenbildersaal mit sich als Hogarths Schwanzstück und Finalstock beschließend – wenn man dir jenen Grafen vorhalten könnte, der eben jetzt vollends in London versiert und einst nie mehr Arbeit vor sich finden wird, als wenn er von den Toten auferstehen will und sich seine Glieder, wie ein Frühstück in Paris, in der halben alten Welt zusammenklauben muß, die Wirbelhaare auf den Straßendämmen nach Wien – die Stimme in den Konservatorien zu Rom – seine erste Nase in Neapel, wo sich mehrere Statuen mit zweiten ergänzen – seine anus cerebri (diese Gedächtnis-Sitze nach Hoboken) und seine Zirbeldrüse und mehrere Sachen in der Propaganda des Todes mehr als des Lebens – – Kurz der Tropf (er hat mir den Redefaden verworren) findet nichts auf dem Kirchhof neben sich als das, worein er jetzt wie andere Leichen auf dem St. Innozenz-Kirchhof in Paris, ganz verwandelt ist – das Fett.