Die unschuldigen Kinderfreuden kommen nie wieder, Walt!«
Aber der Notar hörte und sah nichts als Apollos flammenden Sonnenwagen in sich rollen, worauf schon die Gestalten seines künftigen Doppelromans kolossalisch standen und kamen; unwillkürlich macht' er große Stücke vom Buche fertig und konnte sie dem verwunderten Bruder zuwerfen. Dieser wollte endlich davon aufhören, aber der Notar drang noch auf den Titel ihres Buchs. Vult schlug Flegeljahre vor; der Notar sagte offen heraus, wie ihm ein Titel widerstehe, der teils so auffallend sei, teils so wild. »Gut, so mag denn die Duplizität der Arbeit schon auf dem ersten Blatte bezeichnet werden, wie es auch ein neuerer beliebter Autor tut, etwan: Hoppelpoppel oder das Herz.« Bei diesem Titel mußte es bleiben.
Beide mengten sich wieder in die Gegenwart ein.
Der Notar nahm ein Glas und drehte sich von der Gesellschaft ab und sagte mit tropfenden Augen zu Vult: »Auf das Glück unserer Eltern und auch der armen Goldine! Sie sitzen jetzt gewiß ohne Licht in der Stube und reden von uns.« – Hierauf zog der Flöten ist sein Instrument hervor und blies der Gesellschaft einige gemeine Schleifer vor. Der lange Wirt tanzte darnach langsam und zerrend mit dem schläfrigen Knaben; manche Gäste regten den Takt-Schenkel; der Notarius weinte dazu selig und sah ins Abendrot. »Ich möchte wohl«, sagt' er dem Bruder ins Ohr, »die armen Fuhrleute sämtlich in Bier freihalten.« – »Wahrscheinlich«, sagte Vult, »würfen sie sich dann aus point d'honneur den Hügel hinunter. Himmel! sie sind ja Krösi gegen uns und sehen herab.« Vult ließ den Wirt plötzlich, statt zu tanzen, servieren; so ungern der Notarius in seine Entzückung hinein essen und käuen wollte.
»Ich denke roher«, sagte Vult, »ich respektiere alles, was zum Magen gehört, diese Montgolfiere des Menschen-Zentaurs; der Realismus ist der Sancho Pansa des Idealismus. – Aber oft geh' ich weit und mache in mir edle Seelen, z.B. weibliche, zum Teil lächerlich, indem ich sie essen und als Selbst-Futterbänke ihre untern Kinnbacken so bewegen lasse, daß sie dem Tier vorschneiden.«
Walt unterdrückte sein Mißfallen an der Rede. Beglückt aßen sie oben vor der ausgebrochenen Wand; die Abendröte war das Tafellicht. Auf einmal rauschte mit verlornem Donnern eine frische Frühlingswolke auf Laub und Gräser herunter, der helle goldne Abendsaum blickte durch die herabtropfende Nacht, die Natur wurde eine einzige Blume und duftete herein, und die erquickte gebadete Nachtigall zog wie einen langen Strahl einen heißen langen Schlag durch die kühle Luft. »Vermissest du jetzt sonderlich«, fragte Vult, »die Parkbäume, den Paruckenbaum, den Gerberbaum – oder hier oben die Bedienten, die Servicen, den Goldteller mit seinem Spiegel, damit darauf die Portion mit falschen Farben schwimme?« – »Wahrlich nicht«, sagte Walt; »sieh, die schönsten Edelsteine setzt die Natur auf den Ring unseres Bundes« – und meinte die Blitze. Die Luftschlösser seiner Zukunft waren golden erleuchtet. Er wollte wieder vom Doppelromane und dem Stoff dazu anfangen – und sagte, er habe hinter der Schäferei heute drei hineinpassende Streckverse gemacht. Aber der Flötenist, einer und derselben Materie bald überdrüssig und nach Rührungen ordentlich des Spaßes bedürftig, fragte ihn: warum er zu Pferde gegangen? »Ich und der Vater«, sagte Walt ernst, »dachten, eh wir von der Erbschaft wußten, ich würde dadurch der Stadt und den Kunden bekannter, weil man unter dem Tore, wie du weißt, nur die Reiter ins Intelligenzblatt setzt.« Da brachte der Flötenist wieder den alten Reiterscherz auf die Bahn und sagte: der Schimmel gehe, wie nach Winkelmann die großen Griechen, stets langsam und gesetzt – er habe nicht den Fehler der Uhren, die immer schneller gehen, je älter sie werden – ja vielleicht sei er nicht älter als Walt, wiewohl ein Pferd stets etwas jünger sein sollte als der Reiter, so wie die Frau jünger als der Mann – ein schönes römisches Sta Viator, Steh, Wegmachender! bleibe der Gaul für den, so darauf sitze....
»O lieber Bruder«, sagte Walt sanft, aber mit der Röte der Empfindlichkeit und Vults Laune noch wenig fassend und belachend, »zieh mich damit nicht mehr auf, was kann ich dafür?«
»Nu, nu, warmer Aschgraukopf«, sagte Vult und fuhr mit der Hand über den Tisch und unter alle seine weiche Locken, streichelnd Haar und Stirn, »lies mir denn deine drei Polymeter vor, die du hinter der Schäferei gelammet.«
Er las folgende:
Das offne Auge des Toten
Blick mich nicht an, kaltes, starres, blindes Auge, du bist ein Toter, ja der Tod. O drücket das Auge zu, ihr Freunde, dann ist es nur Schlummer.
»Warst du so trübe gestimmt an einem so schönen Tage?« fragte Vult. »Selig war ich wie jetzt«, sagte Walt. Da drückte ihm Vult die Hand und sagte bedeutend: »Dann gefällts mir, das ist der Dichter. Weiter!«
Der Kinderball
Wie lächelt, wie hüpfet ihr, blumige Genien, kaum von der Wolke gestiegen! Der Kunst-Tanz und der Wahn schleppt euch nicht, und ihr hüpfet über die Regel hinweg. – Wie, es tritt die Zeit herein und berührt sie? Große Männer und Frauen stehen da? Der kleine Tanz ist erstarrt, sie heben sich zum Gang und schauen einander ernst ins schwere Gesicht? Nein, nein, spielet ihr Kinder, gaukelt nur fort in eurem Traum, es war nur einer von mir.
Die Sonnenblume und die Nachtviole
Am Tage sprach die volle Sonnenblume: »Apollo strahlt, und ich breite mich aus, er wandelt über die Welt, und ich folge ihm nach.« In der Nacht sagte die Viole: »Niedrig steh' ich und verborgen – und blühe in kurzer Nacht; zuweilen schimmert Phöbus' milde Schwester auf mich, da werd' ich gesehen und gebrochen und sterbe an der Brust.«
»Die Nachtviole bleibe die letzte Blume im heutigen Kranz!« sagte Vult gerührt, weil die Kunst geradeso leicht mit ihm spielen konnte als er mit der Natur, und er schied mit einer Umarmung. In Walts Nacht wurden lange Violenbeete gesäet – an das Kopfkissen kamen durch die offne Wand die Düfte der erquickten Landschaft heran und die hellen Morgentöne der Lerche – sooft er das Auge auftat, fiel es in den blauen vollgestirnten Westen, an welchem die späten Sternbilder nacheinander hinunterzogen als Vorläufer des schönen Morgens.
Nr. 15. Riesenmuschel
Die Stadt – chambre garnie
Walt stand mit einem Kopfe voll Morgenrot auf und suchte den brüderlichen, als er seinen Vater, der sich schon um 1 Uhr auf seine langen Beine gemacht, mit weiten Schritten und reisebleich durch den Hof laufen sah. Er hielt ihn an. Er mußte lange gegen den Strafprediger seine Gegenwart durch die ausgebrochene Mauer herunter verteidigen. Darauf bat er den müden Vater, zu reiten, indes er zu Fuße neben ihm laufe. Lukas nahm es ohne Dank an. Sehnsüchtig nach dem Bruder, der sich nicht zeigen durfte, verließ Walt die Bühne eines so holden Spielabends.
Auf dem waagrechten Wege, der keinen Wassertropfen rollen ließ, bewegte sich das Pferd ohne Tadel und hielt Schritt mit dem tauben Sohne, dem der Vater von der Sattel-Kanzel unzählige Rechts- und Lebensregeln herabwarf. Was konnte Gottwalt hören? Er sah nur in und außer sich glänzende Morgenwiesen des Jugendlebens, ferner die Landschaft auf beiden Seiten der Chaussee, ferner die dunklen Blumengärten der Liebe, den hohen hellen Musenberg und endlich die Türme und Rauchsäulen der ausgebreiteten Stadt. Jetzt saß der Vater mit dem Befehle an den Notarius ab, durchs Tor zum Fleischer zu reiten, in sein Logis, und um 10 Uhr in den weichen Krebs zu gehen, wo man auf ihn warten wolle, um mit ihm gehörig vor dem Magistrate zu erscheinen.
Walt saß auf und flog wie ein Cherub durch den Himmel.
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