Hinter seinem Rücken lachte sämtliche Handels-Pagerie ungewöhnlich.

Er traf seinen Vater in historischer Arbeit und Freude an. Dieser stellte ihn als Universalerben sämtlichen Gästen vor. Er schämte sich, als eine Merkwürdigkeit dieser Art lange dem Beschauen bloßzustehen, und beschleunigte die Erscheinung vor dem Stadtrat. Verschämt und bange trat er in die Ratsstube, wo er gegen seine Natur als ein hoher Saitensteg dastehen sollte, auf welchen andere Menschen wie Saiten gespannt waren; er schlug die Augen vor den Akzessit-Erben nieder, die gekommen waren, ihren Brotdieb abzuwägen. Bloß der stolze Neupeter fehlte samt dem Kirchenrat Glanz, der ein viel zu berühmter Prediger auf dem Kanzel- und dem Schreibpulte war, um zur Schau eines ungedruckten Menschen nur drei Schritte zu tun, von dem er die größte Begierde forderte, vielmehr Glanzen aufzusuchen.

Der regierende Bürgermeister und Exekutor Kuhnold wurde mit einem Blick der heimliche Freund des Jünglings, der mit so errötendem Schmerz sich allein, vor den Augen stehender gefräßiger Zuschauer, an die gedeckte Glückstafel setzte. Lukas aber besichtigte jeden sehr scharf.

Das Testament wurde verlesen. Nach dem Ende der 3ten Klausel zeigte Kuhnold auf den Frühprediger Flachs, als den redlichen Finder und Gewinner des Kabelschen Hauses; und Walt warf schnell die Augen auf ihn, und sie standen voll Glückwünsche und Gönnen.

Als er in der 4ten Klausel sich anreden hörte vom toten Wohltäter: so wäre er den Tränen, deren er sich in der Ratsstube schämte, zu nahe gekommen, wenn er nicht über Lob und Tadel wechselnd hätte erröten müssen. Der Lorbeerkranz und die Zärtlichkeit, womit Kabel ihm jenen aufsetzte, begeisterte ihn mit einer ganz andern, heißern Liebe als das Füllhorn, das er über seine Zukunft ausschüttete. – Die darauf folgenden Stellen, welche für den Vorteil der sieben Erben allerlei aussprachen, versetzten dem Schultheiß den Atem, indem sie dem Sohne einen freiern gaben. Nur bei der 14ten Klausel, die seiner unbefleckten Schwanenbrust den Schandfleck einer weiblichen Verführung zutrauete oder verbot, wurde sein Gesicht eine rote Flamme; wie konnte, dachte er, ein sterbender Menschenfreund so oft so unzart schreiben?

Nach der Ablesung des Testaments begehrte Knoll nach der 11ten Klausel »Harnisch muß« einen Eid von ihm, nichts auf das Testament zu entlehnen. Kuhnold sagte, er sei nur »an Eides Statt« es zu geloben schuldig. »Ich kann ja zweierlei tun; denn es ist ja einerlei, Eid und an Eides Statt und jedes bloße Wort«, sagte Walt; aber der biedere Kuhnold ließ es nicht zu. Es wurde protokolliert, daß Walt den Notarius zum ersten Erbamt auswähle – Der Vater erbat sich Testaments-Kopie, um davon eine für den Sohn zu nehmen, welche dieser täglich als sein Altes und Neues Testament lesen und befolgen sollte – Der Buchhändler Paßvogel besah und studierte den Gesamt-Erben nicht ohne Vergnügen und verbarg ihm seine Sehnsucht nach den Gedichten nicht, deren das Testament, sagt' er, flüchtig erwähne – Der Polizei-Inspektor Harprecht nahm ihn bei der Hand und sagte: »Wir müssen uns öfters suchen, Sie werden kein Erb-Feind von mir sein, und ich bin ein Erbfreund; man gewöhnt sich zusammen und kann sich dann so wenig entbehren wie einen alten Pfahl vor seinem Fenster, den man, wie Le Vayer sagt, nie ohne Empfindung ausreißen sieht. Wir wollen einander dann wechselseitig mit Worten verkleinern; denn die Liebe spricht gern mit Verkleinerungswörtern.« Walt sah ihm arglos ins Auge, aber Harprecht hielt es lange aus.

Ohne Umstände schied Lukas vom gerührten Sohne, um die Kabelschen Erbstücke, den Garten und das Wäldchen vor dem Tore und das verlorne Haus in der Hundsgasse, so lange zu besehen, bis der Ratsschreiber den Letzten Willen mochte abgeschrieben haben.

Gottwalt schöpfte wieder Frühlings-Atem, als er die Ratsstube wie ein enges dumpfiges Winterhaus voll finsterer Blumen aus Eis verlassen hatte; so vieles hatt' ihn bedrängt; er hatte der unreinen Mimik des Hunds- und Heißhungers gemeiner Weltherzen zuschauen – und sich verhaßt und verworren sehen müssen – die Erbschaft hatte, wie ein Berg, die bisher von der Ferne und der Phantasie versteckten und gefüllten Gräben und Täler jetzt in der Nähe aufgedeckt und sich selber weiter hinausgerückt – der Bruder und der Doppelroman hatten unaufhörlich ihm in die enge Welt hinein die Zeichen einer unendlichen gegeben und ihn gelockt, wie den Gefangnen blühende Zweige und Schmetterlinge, die sich außen vor seinen Gittern bewegen.

Der liebliche Jesuiterrausch, den jeder den ganzen ersten Tag in einer neuen großen Stadt im Kopfe hat, war in der Ratsstube meistens verraucht. An der Wirtstafel, an der er sich einmietete, kam unter der rauhen ehelosen Zivil-Kaserne von Sachwaltern und Kanzelisten über seine Zunge, außer etwas weniges von einer geräucherten, nichts, kein warmer Bruder-Laut, den er hätte aussprechen oder erwidern können. Den Bruder Vult wußt' er nicht zu finden; und am schönsten Tage blieb er daheim, damit ihn dieser nicht fehlginge. In der Einsamkeit setzte er ein kleines Inserat für den Haßlauer Kriegs- und Friedens-Boten auf, worin er als Notarius anzeigte, wer und wo er sei; ferner einen kurzen anonymen Streckvers für den Poetenwinkel des Blattes-Poets corner-, überschrieben

 

Der Fremde

 

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Gemein und dunkel wird oft die Seele verhüllt, die so rein und offen ist; so deckt graue Rinde das Eis, das zerschlagen innen licht und hell und blau wie Äther erscheint. Bleib' euch stets die Hülle fremd, bleib' es nur der Verhüllte nicht.

 

*

 

Schwerlich werden einem Haßlauer Ohre von einiger Zärte die Härten dieses Verses – z.B. der Proceleusmatikus: kel wird oft die – der zweite Päon: die Hülle fremd – der Molossus: bleib' euch stets – entwischen; durfte aber nicht der Dichter seine Ideen-Kürze durch einige metrische Rauheit erkaufen? – Ich bemerke bei dieser Gelegenheit, daß es dem Dichter keinen Vorteil schafft, daß man seine Streck- und Einverse nicht als eine Zeile drucken lassen kann; und es wäre zu wünschen, es gäbe dem Werke keinen lächerlichen Anstrich, wenn man aus demselben armlange Papierwickel wie Flughäute flattern ließe, die herausgeschlagen dem Kinde etwan wie ein Segelwerk von Wickelbändern säßen; aber ich glaube nicht, daß es Glück machte.

 

Darauf kaufte sich der Notar im Laden drei unbedeutende Visitenkarten, weil er glaubte, er müsse auf ihnen an die beiden Töchter und die Frau des Hauses seinen Namen abgeben; und gab sie ab. Als er eilig seine Inserate in der nahen Zeitungsdruckerei ablieferte: fiel sein Auge erschreckend auf das neueste Wochenblatt, worin noch mit nassen Buchstaben stand:

 

»Das Flötenkonzert muß ich noch immer verschieben, weil ein schnell wachsendes Augen-Übel mir verbietet, Noten anzusehen.

J. van der Harnisch.«

 

Welch einen schweren Kummer trug er aus der Druckerei in sein Stübchen zurück! Auf den ganzen Frühling seiner Zukunft war tiefer Schnee gefallen, sobald sein freudiger Bruder die freudigen Augen verloren, die er an seiner Seite darauf werfen sollte. Er lief müßig im Zimmer auf und ab und dachte nur an ihn. Die Sonne stand schon gerade auf den Abendbergen und füllte das Zimmer mit Goldstaub; noch war der Geliebte unsichtbar, den er gestern von derselben Sonnenzeit erst wiederbekommen. Zuletzt fing er wie ein Kind zu weinen an, aus stürmischem Heimwehe nach ihm, zumal da er nicht einmal am Morgen hatte sagen können: guten Morgen und lebe wohl, Vult!

Da ging die Türe auf und der festlich gekleidete Flötenist herein. »O mein Bruder!« rief Walt schmerzlich-freudig. »Donner! leise«, fluchte Vult leise, »es geht hinter mir – nenne mich Sie!« Flora kam nach. »Morgen vormittag demnach, Hr. Notarius«, fuhr Vult fort, »wünsche ich, daß Sie den Mietkontrakt zu Papier brächten. Tu parles français, Monsieur?« – »Misérablement«, versetzte Walt, »ou non.« – »Darum, Monsieur, komme ich so spät«, erwiderte Vult, »weil ich erstlich meine eigne Wohnung suchte und bezog und zweitens in einer und der andern fremden einsprach; denn wer in einer Stadt viele Bekanntschaften machen will, der tue es in den ersten Tagen, wo er einpassiert; da sucht man noch die seinige, um ihn nur überhaupt zu sehen; später, wenn man ihn hundertmal gesehen, ist man ein alter Hering, der zu lange in der aufgeschlagenen Tonne auf dem Markte bloßgestanden.«

»Gut«, sagte Walt, »aber mein ganzer Himmel fiel mir aus dem Herzen heraus, da ich vorhin in dem Wochenblatte die Augenkrankheit las«- und zog leise die Türe des Schlafkämmerchens zu, worin Flora bettete. »Die Sache bleibt wohl die«, fing Vult an und stieß kopfschüttelnd die Pforte wieder auf – »pudoris gratia factum est atque formositatis«8, erwiderte Walt auf das Schütteln – »bleibt wohl die, sag' ich, was Sie auch mögen hier eingewendet haben, die, daß das deutsche Kunstpublikum sich in nichts inniger verbeißet als in Wunden oder in Metastasen.