Junge
Leute dürfen sich noch nicht allzuviel zutrauen, wissen Sie, Herr
Clerval. Auch ich war bescheiden, wie ich noch jung war; aber das
wird ja dann später alles anders.«
Herr Krempe war damit auf ein Thema übergegangen, das mir nicht
so unangenehm war, nämlich auf einen Lobhymnus seiner selbst.
Clerval hatte meine Neigung zu den Naturwissenschaften nie
geteilt und auch seine Lektüre hatte sich immer wesentlich von der
meinen unterschieden. Er hatte die Universität bezogen mit der
festen Absicht, orientalische Philologie zu studieren und sich
damit einen Lebensberuf zu schaffen. Das Persische, Arabische und
Sanskrit waren seine Lieblingssprachen, und es war ihm ein
Leichtes, mich zu veranlassen, daß auch ich diese Fächer belegte.
Müßiggang war mir von jeher ein Greuel gewesen, und gerade jetzt,
wo ich meine früheren Studien wieder zu hassen begann und alles zu vergessen wünschte, war es mir lieb, in
meinem Freunde einen Arbeitsgenossen zu haben und in den geistigen
Schätzen des Orients nicht nur Belehrung, sondern auch Ablenkung zu
finden. Es war mir nicht, wie ihm, darum zu tun, mir genaue,
detaillierte Kenntnisse zu erwerben, sondern ich wollte mich nur
der Zerstreuung halber damit beschäftigen. Ich las nur um des
Inhalts willen und meine Mühe machte sich reichlich belohnt; ihr
Ernst ist sanft und ihre Freude erhebend, wie ich es in keiner
anderen Literatur kennen lernte. Wo man diese orientalischen
Schriften liest, meint man, das Leben fließe nur im linden
Sonnenlichte und in berauschendem Rosenduft dahin. Wie verschieden
sind dagegen die herben, heroischen Dichtungen der Griechen und
Römer!
Der Sommer floß dahin und meine Rückkehr nach Genf wurde auf
Ende Herbst festgesetzt. Durch verschiedene Zufälligkeiten kam es
aber nicht dazu, und unterdessen brach der Winter herein, der mit
Schnee und Eis die Straßen unbenutzbar machte, so daß ich meine
Abreise auf den folgenden Frühling verschieben mußte. Dieser neue
Aufschub fiel mir sehr schwer, denn ich sehnte mich danach, meine
Heimat und meine Lieben zu sehen. Ich hatte meine Abreise auch
deswegen verzögert, weil ich Henry nicht ganz allein in der fremden
Stadt lassen, sondern ihn erst noch mit einigen Einwohnern
derselben bekannt machen wollte. Wir verbrachten den Winter ganz
vergnügt, und der Frühling, der ungewöhnlich spät einsetzte,
entschädigte uns mit allen Mitteln für sein Säumen.
Schon war es Mai geworden und ich erwartete Tag für Tag den
Brief aus der Heimat, der meine endgültige Abreise festlegen
sollte. Henry schlug mir vor, mit ihm eine Fußtour in die Umgebung
von Ingolstadt zu machen, damit ich mich von dem Landstriche, in
dem ich einige Zeit gelebt, verabschieden könne. Ohne Zögern
stimmte ich zu, denn ich war ein großer Freund körperlicher
Übungen, außerdem war ja Clerval mein Genosse auf meinen
Streifereien in der prächtigen Bergwelt meiner Heimat gewesen.
Vierzehn Tage blieben wir fort. An Geist und
Körper hatte ich mich schon erholt und sog neue Kraft aus der
reinen, heilsamen Luft, dem abwechselungsreichen Anblick der Natur
und den Gesprächen meines Freundes. Das Studium hatte mich vordem
vollkommen von meinen Mitgeschöpfen getrennt und mich einsam
gemacht. Aber Clerval gelang es, wieder die besseren Gefühle meines
Herzens die Oberhand gewinnen zu lassen; ich hatte wieder Freude an
der Natur und an den unschuldigen Kindergesichtern. Ein edler
Freund! Wie aufrichtig er mich liebte und sich bemühte, mich auf
seine Höhe zu erheben! Selbstsucht hatte mich kleinlich und
engherzig gemacht, aber sein Edelmut und seine Liebe öffneten mir
das Herz. Ich wurde wieder dasselbe glückliche Geschöpf, das ich
vorher gewesen, sorglos und froh. Da ich glücklich war, hatte auch
die Natur die Macht, freudige Gefühle in mir zu erwecken. Heiterer
Himmel und grünende Wiesen erfüllten mich mit Entzücken. Es war
eine herrliche Zeit; die Frühlingsblüten zierten noch Baum und
Strauch und die Blumen des Sommers brachen schon überall hervor.
Die Gedanken, die mich im vergangenen Jahre so schwer bedrückt
hatten, trotzdem ich mir alle Mühe gab, sie von mir zu werfen,
waren von mir gewichen.
Henry war glücklich, als er mich so froh sah. Er war
unerschöpflich an gedankenreicher Konversation, und oftmals erfand
er nach Art der persischen und arabischen Märchendichter
Geschichten von wunderbarer Schönheit und Glut. Zuweilen
wiederholte er mir meine Lieblingsdichter oder begann mit mir
Diskussionen, die er mit großer Beharrlichkeit durchfocht.
Sonntag Nachmittag kehrten wir in unsere Universitätsstadt
zurück. Die Bauern tanzten und alle Welt schien glücklich und
sorglos. Ich selbst war in köstlicher Laune, und voll unbändiger
Heiterkeit und Fröhlichkeit wäre ich selbst am liebsten
gesprungen.
Kapitel 7
Bei meiner Heimkehr fand ich einen Brief meines Vaters vor und
las:
Lieber Viktor! Du wirst mit Ungeduld auf meinen Brief haben, der
Dir das genaue Datum Deiner Rückreise zu uns angeben soll. Und
eigentlich hatte ich erst die Absicht, Dir nur einige wenige Zeilen
zu schreiben, die Dir sagen sollten, wann wir Dich hier erwarten.
Aber das wäre eine grausame Schonung gewesen und ich wagte es
nicht. Wie überrascht wärst Du gewesen, mein lieber Sohn, wenn Du
anstatt eines frohen, herzlichen Willkommgrußes in ein Haus voll
Trauer und Tränen gekommen wärest. Wie kann ich Dir nur unser
Unglück schildern, Viktor? Deine lange Abwesenheit hat Dich sicher
nicht gefühllos für unsere Freuden und Leiden gemacht, und wie
schwer wird es mir, meinem Sohne, der schon so lange in der Ferne
weilt, wehe zu tun! Ich möchte Dich gern vorbereiten auf das
Furchtbare, was ich Dir sagen muß, aber ich weiß, es ist unmöglich.
Ich sehe jetzt schon Deine Augen vorausfliegen nach der Stelle, die
Dir das Unheilvolle verkündet.
Wilhelm ist – tot! Der süße, liebe Junge, dessen Lächeln meinem
Herzen wohltat wie warmer Sonnenschein, und der so reizend, so
fröhlich war! Viktor, denke Dir, man hat ihn ermordet!
Letzten Donnerstag (7. Mai) ging ich mit Elisabeth und Deinen
zwei Brüdern nach Plaipalais spazieren.
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