Trotzdem
aber blieben wir bis zum Morgen liegen, da wir fürchten mußten, in
der Dunkelheit mit den treibenden Eismassen zusammenzustoßen. Ich
benützte diese Zeit, um mich etwas auszuruhen.
Als es Tag wurde, ging ich an Deck und fand alle Matrosen auf
einer Seite des Schiffes stehen, sich mit jemand unterhaltend, der
scheinbar unten auf dem Wasser war. Es war in der Tat ein
Schlitten, ähnlich dem, den wir gestern gesehen hatten; er war in
der Nacht auf einem schwimmenden Stück Eis zu uns herangetrieben
worden. Nur ein Hund war noch vorgespannt, und im Schlitten saß ein
Mensch, den die Matrosen veranlassen wollten, an Bord zu kommen. Er
war nicht, wie uns der Fremde von gestern geschienen hatte, ein
wilder Eingeborener irgend eines unentdeckten Eilandes, sondern ein
Europäer. Als ich an Deck kam, sagte der Maat: »Da kommt unser
Kapitän, der wird nicht zugeben, daß Sie auf offener See zugrunde
gehen.«
Der Fremde gewahrte mich und sprach mich dann englisch,
allerdings mit etwas eigentümlichem Dialekt, an. »Ehe ich an Bord
Ihres Schiffes gehe,« sagte er, »bitte ich Sie mir zu sagen, wohin
Sie zu fahren gedenken.«
Du wirst begreifen, daß ich momentan sehr erstaunt war, diese
Frage von einem Menschen zu hören, der eben knapp dem Untergang
entronnen zu sein schien und von dem man annehmen mußte, daß ihm
mein Schiff ein Zufluchtsort sei, den er nicht gegen alle Reichtümer der Erde mehr vertauscht haben würde.
Ich erklärte ihm, daß ich mich mit meinem Schiffe auf einer
Entdeckungsreise nach dem Nordpol befände.
Dies schien ihn zufriedenzustellen und er nahm meine Einladung
an. Großer Gott! Margarete, wenn Du den Mann gesehen hättest, der
sich nur so schwer retten ließ, Dein Erstaunen hätte keine Grenzen
gehabt. Seine Glieder waren fast völlig erfroren und sein Leib war
förmlich gebrochen von Müdigkeit und Krankheit. Ich habe noch nie
einen Menschen in einer so kläglichen Verfassung gesehen. Wir
versuchten ihn in die Kajüte zu tragen, aber kaum hatten wir ihn
unter Deck, da wurde er schon ohnmächtig. Wir brachten ihn also
wieder an Deck zurück und suchten durch Reiben mit Branntwein und
Einflößen von kleinen Schlucken ihn ins Leben zurückzurufen. Als er
Lebenszeichen von sich zu geben begann, wickelten wir ihn in
Leinentücher und legten ihn in der Nähe des Küchenofens nieder.
Allmählich erholte er sich und aß ein paar Löffel Suppe, die ihm
sehr wohl taten.
Zwei Tage vergingen, ehe es ihm möglich war zu sprechen, und mir
kam es zuweilen vor, als hätten ihm all die Leiden den Verstand
geraubt. Als er einigermaßen hergestellt war, ließ ich ihn in meine
Kajüte bringen und pflegte ihn, soweit es sich mit meinen Pflichten
vereinbaren ließ. Ich habe nie in meinem Leben einen
interessanteren Menschen kennen gelernt. Seine Augen haben meist
den Ausdruck der Wildheit, ich möchte fast sagen des Irrsinnes;
aber in manchen Momenten, besonders wenn ihm jemand etwas Liebes
erweist oder ihm einen, wenn auch noch so kleinen Dienst leistet,
leuchtet sein ganzes Wesen auf und wird durchstrahlt von einem
Schimmer von Liebenswürdigkeit und Freundlichkeit, wie man ihn
selten findet. Sonst ist er aber melancholisch und verzweifelt und
knirscht zuweilen mit den Zähnen, als könne er das Übermaß der
Qualen, die er leidet, nimmer tragen.
Als mein Gast einigermaßen wieder gesund war, hatte ich große
Mühe, meine Leute zu verhindern, daß sie ihn mit allenmöglichen Fragen belästigten. Ich konnte es doch nicht
gestatten, daß durch ihre müßige Neugierde die geistige und
körperliche Genesung des Fremden, die offenbar nur durch
ungestörteste Ruhe bewirkt werden konnte, aufgehalten werden
sollte. Einmal jedoch gelang es meinem Leutnant dennoch, die Frage
an ihn zu richten, wo er denn in seinem seltsamen Vehikel so weit
über das Eis herkäme.
Ein Schatten tiefster Betrübnis huschte über sein Gesicht, dann
sagte er: »Um einen zu suchen, der mich floh.«
»Und reiste der Mann, den Sie suchten, in derselben Weise, wie
Sie?«
»Ja.«
»Dann, glaube ich, haben wir ihn gesehen. Denn am Tage, ehe wir
Sie fanden, sahen wir einen Mann auf einem von Hunden gezogenen
Schlitten über das Eis hinwegfahren.«
Dies erregte die Aufmerksamkeit des Fremden und er stellte eine
Reihe dringender Fragen, die sich darauf bezogen, welche Richtung
der Dämon – so nannte er den anderen – genommen habe. Als er kurz
nachher mit mir allein war, sagte er: »Ich habe ohne Zweifel Ihre
Neugierde erregt, ebenso wie die dieser guten Leute, aber Sie
selbst sind ja zu rücksichtsvoll, um mich auszufragen.«
»Gewiß; ich würde es für aufdringlich und unmenschlich halten,
Sie mit irgendwelchen Fragen zu belästigen.«
»Und das, trotzdem Sie mich aus einer seltsamen, verzweifelten
Situation gerettet und mich zum Leben zurückgebracht haben!«
Einige Zeit danach fragte er mich, ob ich glaube, daß der
Eisgang den Schlitten des »Anderen« zerstört habe. Ich antwortete
ihm, daß ich hierüber mit Bestimmtheit nichts aussagen könne, denn
der Eisgang habe erst gegen Mitternacht eingesetzt und der Reisende
könne bis dahin recht wohl sich in Sicherheit gebracht haben.
Seit dieser Auskunft schien neuer Lebensmut den gebrechlichen
Körper des Fremden zu durchströmen. Er wollte absolutan Deck bleiben, um nach dem Schlitten auszuspähen,
von dem wir ihm gesprochen hatten. Aber ich habe ihn überredet,
sich in der Kabine aufzuhalten, da er für die rauhe Temperatur da
oben doch noch nicht stark genug sei. Ich habe ihm aber
versprochen, daß jemand an seiner Stelle Ausschau halten und ihn
sofort benachrichtigen werde, wenn sich irgend etwas sehen lassen
sollte.
Bis zum heutigen Tage habe ich Dir nun alles über das seltsame
Ereignis berichtet. Der Fremde scheint sich nach und nach zu
kräftigen, aber er ist still und in sich gekehrt und ist ärgerlich,
wenn ein anderer als ich seine Kajüte betritt. Aber er ist trotzdem
so freundlich und liebenswürdig, daß die Matrosen ihn alle gern
haben, wenn sie auch nur sehr wenig mit ihm in Berührung kommen.
Ich aber gewinne ihn allmählich lieb wie einen Bruder und sein
ständiger, tiefer Gram flößt mir tiefes Mitleid mit ihm ein. Er muß
in seinen guten Tagen ein prächtiger Mensch gewesen sein, er, der
noch als Wrack so anziehend und liebenswert ist.
Ich habe schon einmal in einem meiner Briefe gesagt, liebe
Margarete, daß es mir wohl nicht vergönnt sein werde, auf dem
weiten Ozean einen Freund zu finden. Aber ich habe wenigstens einen
Mann kennen gelernt, der mir wirklich, wäre sein Geist nicht so
tief verstört, ein Herzensfreund hätte werden können.
Ich werde Dir von Zeit zu Zeit von dem Fremden berichten,
vorausgesetzt, daß es etwas zu berichten gibt.
13. August
18..
Meine Zuneigung zu dem unglücklichen Gaste wächst von Tag zu
Tag.
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