Die Eilike schrie, sie wolle mit ihrem Vater untergehen; doch dann verlor sie die Besinnung, und die Frau Salome trug sie weiter weg von der brennenden Hütte, den Waldabhang hinauf.

Grad auf das Dorf zu trieb aber der Sturm die ersten vorbrechenden Funken. Schon loderte zehn Schritte vom Haus ab ein trockener Baumzweig – nun zwanzig Schritte weiter eine dürre Tanne. Das nächste Haus am Eingange des Tälchens hatte ein Strohdach, und fast mit dem fortstürzenden Scholten langte das Feuer im Dorfe an.

Ein altes Weiblein lief zitternd aus der Strohhütte hervor, hielt sich kaum gegen den Wind aufrecht und starrte in. Betäubung und Zweifel auf ihr flammendes Dach. Schon klangen andere Stimmen ängstlich her; – das Feuer überhüpfte das folgende Haus, faßte jedoch mit einem Griff die drei nächstliegenden. Nun sprang es über auf die andere Seite der Gasse, und – das schlimme Geschick hatte seinen Lauf! Keiner, der es an Ort und Stelle miterlebte, wird den Tag je vergessen, und noch lange wird von ihm in den neuen Häusern und Hütten geredet werden und wird man sich erzählen, wie das Feuer flog, über weite Strecken, Hecken und Gärten sich schwang; wie die Mütter, die vom Hause entfernt gewesen waren, ihre Häuser nicht mehr erreichen konnten und nach ihren Kindern schrien; wie man das brüllende, widerspenstige Vieh aus einem Stalle in den andern rettete, schleppte und zog und von dem nachfolgenden Verderben stets weitergescheucht wurde; wie der Wind in Stößen heulte und der ferne Donner übertönt wurde von den Explosionen der Sprengpatronen, welche die Bergleute in ihren Häusern aufbewahrten. Während des Tumultes selbst hatte nur ein Menschenkind für alle diese Einzelheiten des großen Brandes Auge und Ohr – die Frau Salome Veitor.

Sie stand auf dem höchsten Punkte des Kirchenhügels, von dem man das Dorf überblickte und einen Teil der Norddeutschen Ebene dazu. Sie hatte zu retten gesucht, wie und wo sie konnte. Sie hatte kleine Kinder aus den Häusern getragen und schlechte Habseligkeiten ärmsten Volkes in Sicherheit gebracht; ihre Hände bluteten, ihre Kleider waren zerrissen, und jetzt waren ihre Körperkräfte zu Ende, wenn sie gleich ihre geistigen Fähigkeiten noch klar und vollständig beisammen hatte.

Die Frau Salome hatte sich sehr nützlich gemacht. Ihr Wagen verbrannte mit dem Wirtshause; aber auf dem einen Pferde hatte sie ihren Ludwig nach einer entlegenen Ortschaft um Hülfe geschickt und auf dem zweiten Gaul den besten Reiter des Dorfes von dannen gejagt. Sie hatte ein Wort für die Witwe Bebenroth, deren Haus unversehrt blieb, die aber dessenungeachtet im Weinkrampf auf dem Grabhügel ihres letzten Gatten saß. In Abwesenheit des Justizrats und des Vorstehers war's die Frau Salome, welche die Offiziere der aus der Kreisstadt im Eilschritt zu Hülfe marschierenden Füsilierkompanie empfing, sie mit der Sachlage und dem Situationsplane des Dorfes bekannt machte und sie dahin dirigierte, wo ihre Hülfe vom besten Nutzen sein konnte.

Nun aber stand sie an einen Grabstein gelehnt und neben ihr der alte Pastor des Dorfes, den sie gleichfalls aufrecht zu erhalten hatte durch allerlei Trostesworte. Der Schulmeister zog noch immer unnötigerweise im Turme die Sturmglocke.

Zu ihren Füßen lag Eilike Querian auf einem liegenden Grabstein, mit dem Gesichte auf den Händen. Die Baronin hatte das junge Mädchen hierhergeschafft, wo allmählich alles sich zusammendrängte, was sich nicht selber zu helfen vermochte und noch viel weniger andern zunutze war.

Die Augen der Frau leuchteten, wenngleich ihre Glieder zitterten und der Atem heiß und stoßweise sich ihrem Busen entrang. Sie sah über die Flammen der Nähe auf die Blitze und Wolkenbrüche der Ferne; und alte Verse aus den Psalmen ihrer Väter gingen ihr durch den Sinn und wurden laut auf ihren Lippen. Sie stand wie die Seherinnen ihres Volkes, wenn unter ihren Füßen die Schlachten gegen die Heiden geschlagen wurden; sie reckte ihren Arm aus und murmelte:

»Die Erde bebete und ward bewegt, und die Grundvesten der Berge regeten sich und bebeten, da er zornig war.

Dampf ging auf von seiner Nase und verzehrend Feuer von seinem Munde, daß es davon blitzete.

Er neigte den Himmel und fuhr herab, und Dunkel war unter seinen Füßen.

Und er fuhr auf dem Cherub und flog daher, er schwebete auf den Fittichen des Windes.

Sein Gezelt um ihn her war finster – vom Glanz vor ihm trenneten sich die Wolken – und der Herr donnerte im Himmel.

Er schoß seine Strahlen und zerstreute sie, er ließ sehr blitzen und schreckte sie.

Da sahe man Wassergüsse, und des Erdbodens Grund ward aufgedeckt, Herr, von deinem Schelten, von dem Odem und Schnauben deiner Nase.«

Wenn sie sich dann aber, was immer, immer von neuem geschah, das gräßliche Erlebnis in dem Hause Querians, die Stimme und Gestalt des Wahnsinnigen, sein letztes Bild und den zertrümmernden Hammer in der Hand des Tollen von neuem vor den inneren Sinn rief, dann schloß sie die Augen vor der Nähe und Ferne, und der Aufruhr, das Geheul und Krachen um sie betäubte sie, daß ihr die Stirn zu zerspringen drohte; und so wechselte das ab bis zum Abend, bis es in der Ferne und in der Nähe still wurde. Ja still!

Um sechs Uhr abends legte sich der große Wind, und aus den Gewittern in der Ebene wurde ein Landregen, der acht Tage lang nicht aufhörte und viel böses Blut machte. Zwei Drittel des Dorfes lagen in Asche, das letzte Drittel war gerettet, ohne daß bis zum Ende ein Tropfen aus der Höhe dazu geholfen hätte. Die Menschen aber hatten nicht mehr die Kraft, über ihr Elend zu schreien oder laut zu fluchen; sie beteten und weinten leise oder knirschten leise mit den Zähnen.

Gegen sieben Uhr erschien der Justizrat Scholten mit verbundenem Kopfe, versengtem Haar und Backenbart auf dem Kirchhofe, schüttelte die Witwe Bebenroth ziemlich grimmig auf und schickte sie in ihren Keller nach dem Vorrat seines Getränkes. Er ließ die Frau Salome ein Glas Wein trinken und setzte sich dann zu ihr und der Eilike auf den alten verwitterten Stein. Nach einer geraumen Weile sagte er so matt und müde und gleichgültig wie vor vier Stunden Querian:

»Und da glaubt man denn noch, man sei etwas und bedeute etwas, wenn man mit den Armen und Beinen zappelnd sich eine Meinung, eine Ansicht bildet und sie von dem Mist laut hinauskräht! O Querian, Karl Ernst Querian! – Ob wohl die Behörde glauben wird, daß es sich so einfach zutrug, wie wir es sahen und es wohl demnächst als Augenzeugen werden bekräftigen müssen, Frau Salome? – Übrigens, meine Beste, müssen wir heute abend noch das Kind des Unglücklichen von hier fortschaffen. Es ist unbedingt notwendig; denn das Volk ist jetzt so wahnsinnig wie der Alte, spinnt grimmige Phantasien und sucht nach jemand, gegen den es seiner Verzweiflung und Wut Luft machen kann. Ich habe bereits absonderliche Worte gehört, und Querians Kind würde morgen früh manches zu klagen haben, wenn wir es hier über Nacht ließen. Sehen Sie sich um – wir drei sitzen allein – sie haben einen leeren Raum um uns gelassen; aber sie sehen nach uns herüber.«

So war es in der Tat. Eine unsichtbare Linie hatte das Dorfvolk gezogen und stand um den Kreis stumm, aber mit schlimmen Blicken.

Die Baronin Veitor blickte gleichgültig auf, zu gleicher Zeit den Kopf des Kindes sanft berührend.

»Wir können nicht heraus«, sagte sie; »es ist vergeblich – wir stecken in uns, wir stecken in der Menschheit, wir sind gefangen in dem harten Gefängnis der Welt. Wir keuchten nach Freiheit, Erkenntnis, Schönheit, und im günstigsten Falle wird uns gestopft der Mund mit Erde. Morgen werd ich wieder anders denken; aber jetzt sehne ich mich nach der dunkeln Ecke auf der Weiberseite der Synagoge, wo ich saß mit meiner Mutter und sang, und wo ich hörte ablesen die Thora – das Gesetz.«

»Jawohl«, ächzte Scholten. »Es war eine schöne eine behagliche, anmutige Zeit, wo das Gesetz, das Corpus juris meine Welt war und die Aussicht auf das Staatsexamen mein allereinzigstes Elend in sich schloß. Morgen werde ich wohl gleichfalls wieder anders denken.«

Der alte Sommergast des Dorfes durfte es sich schon für eine Weile gönnen, zu sitzen und zu verschnaufen. Die Behörden des modernen Staates befanden sich jetzt in der erstaunlichsten Tätigkeit, und man konnte sie nur loben.