Marschieren Sie nur ruhig weiter nach Ballenstedt, lieber Leipziger; ich werde sofort mit dem Herrn Wirt und seiner Gattin ein Wort reden.«

»Ei je, Sie sind von der Justiz?« rief der Leipziger. »Dann gibt es freilich noch einen gerechten Gott! – Soll ich mit Ihnen wieder 'nein gehen? Wollen Sie mich schwören lassen, geehrter Herr Tribunalspräsident? Ich beschwöre Ihnen alles. Warten Sie, ich will Sie meine Papiere –«

»Wollen Sie sich wohl gefälligst nach Ballenstedt scheren!« schrie der Justizrat, mit seinem Stocke aufstoßend.

»Entschuldigen Sie, mein verehrter Herr«, stotterte der Schneider verschüchtert, und der Justizrat klopfte ihm zum andern Mal vertraulich-ermunternd auf die Schulter und sagte:

»Ich meine, gehen Sie nur ruhig Ihres Weges und überlassen Sie die Sache hier mir. Ich bin bekannt in der Gegend, und Sie können sich auf mich verlassen. Und hören Sie, guter Freund, wie ich Sie kennengelernt, werden Sie mir für einen Rat dankbar sein: machen Sie doch den kleinen Umweg durchs Selketal und grüßen Sie unter dem Falkenstein des Pfarrers Tochter zu Taubenhain recht freundlich vom – Justizrat Scholten; das ist mein Name nämlich.«

»Herrjeses Sie – die lebt noch? Die haben Sie auch vor Gericht vertreten? O Herr Justizrat, hundertmal ließ' ich mich aus der Tür schmeißen, um Ihnen zu begegnen; jetzt verlaß ich mich auf Sie wie aufs Jüngste Gericht, und da Sie es wünschen, so empfehle ich mich höflichst. Der Herrgott möge es Ihnen vergelten, was Sie in meinen Angelegenheiten vornehmen.«

»Ich empfehle mich gleichfalls höflichst«, sprach der Justizrat, die Mütze abnehmend, jedoch zu gleicher Zeit mit dem Knittel bergab winkend. Der Schneider nahm Abschied von ihm in den drei Tanzmeisterposituren und entfernte sich, alle drei Schritte über die Schulter zurückblickend. Der Justizrat trat in das Berghaus zurück, von dessen Fenstern aus man ihn wie den Schneider fortwährend scharf und nicht ohne Besorgnis im Auge behalten hatte.

Die Wirtin hatte ihn im Auge behalten, der Wirt saß verdrossen und tückisch hinterm Tisch, den Kopf auf beide Fäuste gestützt. Der alte Scholten grüßte die Wirtin und wendete sich an den Wirt.

»Da haben Sie aber Ihre Sache einmal wieder ganz vortrefflich gemacht, Herr Zucker«, sagte er. »Meine aufrichtigsten Komplimente! Jaja, da sieht man, daß Sie ziemlich hoch über der norddeutschen Ebene wohnen und also die Berechtigung haben, vornehm darauf hinunterzusehen. Höflichkeit soll zwar eine Tugend sein, die an Wert zunimmt, je tiefer hinab sie gehandhabt wird; aber Sie müssen das besser verstehen, und ich bescheide mich gern. Seltsamerweise behaupten da in der Tiefe einige, daß es gar keine Kunst sei, vor einem Reichen und Vornehmen die Mütze zu ziehen, und daß solches kaum als Verdienst angerechnet werden könne; aber Sie müssen natürlich am besten wissen, an wem Sie am meisten verdienen. Ich habe herzlich lachen müssen über das Gesicht, mit welchem der arme Teufel da eben abzog. Denken Sie aber nur: er entblödete sich nicht, Sie einen Flegel zu nennen und Ihre Frau eine giftige alte Bergkatze! Was sagen Sie dazu, Madam Zucker?«

Sie starrten beide stumm, mit geöffnetem Munde auf den alten Juristen.

»Und jetzt ist er hinunter den Berg, seinen drei Brüdern entgegen – zwei Zimmergesellen und einem Grobschmied; und dazu ist's seine feste Absicht, Ihnen jeden Schneider, der diesen Sommer den Blocksberg erklimmen wird, auf den Hals zu hetzen. Ich suchte ihm, meinem Beruf gemäß, versöhnlichere Gefühle beizubringen, aber es ist mir nicht gelungen. Auf jedes gute Wort hin wurde er wütender und jähzorniger, sprach von Bestienvolk und fragte, was ich wohl meine, ob Sie Ihr Anwesen über seinen Wert bei einer Feuerversicherung eingeschrieben hätten. Ich sagte ihm, dies glaube ich nicht, und dann lachte er teuflisch, zog eine Tigerzigarre hervor, zündete sie mit einem Basiliskenblicke auf Ihr Dach an und ging zähneknirschend ab mit dem Worte: Sieben auf einen Schlag!, was ich nicht verstand.«

»Barmherzige Güte!« stöhnte die Frau Wirtin, und der Wirt stand längst hinter seiner Tischplatte aufgerichtet, stemmte beide Hände darauf und sagte: »Sapperlot!«, Grimm und Bestürzung in dem Ausruf aufs wirkungsvollste zutage fördernd.

Mit sozusagen trübem Auge sah der Justizrat nach seiner Uhr:

»Und meine Zeit ist leider jetzt auch abgelaufen. Schuldig bin ich wohl nichts mehr? Also – guten Tag!«

So ging auch er, und der Wirt setzte sich wieder, und seine Frau setzte sich gleichfalls.

Sie saßen eine geraume Zeit, sich mit giftigen Seitenblicken anschielend, bis plötzlich sich die Frau erhob, die Hände ihrerseits auf den Tisch stemmte, sich weit über ihn hinbog und ihrem Gatten ins Gesicht fauchte:

»Hast du's nun mal wieder, wie du's willst? Ist es nun so recht? Du Grobsack, du Schnarcher, du Leuteanbeller; hast du dir nun bald genug Hypotheken aufs Haus gebellt? O du – du! – Prügel genug hast du in deiner eigenen Gaststube gekriegt – aber immer noch nicht genug! Jetzt weißt du meine Meinung!«

Damit fuhr sie hinaus in die Küche; aber leider nicht durch den Schornstein ab.

»Sapperlot!« stöhnte der Wirt noch einmal, und dann murmelte er: »Wer mir vor fünfzehn Jahren als zivilem jungem Zimmergarçon im Hotel Royal in Hannover gesagt hätte, was hier in der Wildnis aus mir werden würde, der – hätte sicher den Zug verschlafen und sein Haar im Kaffee und seine Portion Mäusedreck im Milchtopf gefunden. So verwildert man, ohne was dazu zu können! O verflucht! Aber – am meisten ärgert einen doch der verfluchte alte Besenbinder, der da eben ging, nachdem er seine Sottisen bestellt hatte, ohne daß man ihm dafür an die Gurgel konnte. Und das Verdammteste ist, daß man ihn eben kennt und weiß, daß ihm nicht beizukommen ist. An dem ist Höflichkeit und alles, was das Gegenteil davon ist, verloren. Im Dunkeln möchte man den Hund auf ihn hetzen; aber ich glaube, selbst die Hunde wagen sich nicht an ihn!«

 

Drittes Kapitel

 

Von den zutunlich wedelnden Hunden des Berghauses umgeben, stand der alte Herr noch einen Augenblick auf dem Steintritte vor der Haustür und atmete in vollen Zügen die frische Gebirgsluft. Dazu lachte er vergnügt in sich hinein, und da jetzt zu Esel, Maulesel und zu Fuße ein nicht kleiner Schwarm von Touristen sich der Wirtschaft näherte, so entfernte er sich seinerseits, das heißt er suchte seinen eigenen Weg über die Landstraße weg auf einem kaum sichtbaren Fußpfade, der sich durch ein Gewirr von abgewaschenen Granitblöcken schräg bergan zog. Dieser Pfad erreichte die große Straße nach einer kleinen Stunde, kreuzte sie abermals und stieg in die Täler hinab, Jemand, der ihn nicht ganz genau kannte, der hätte ihn bald verloren, und wenn er ihn noch so fest und sicher unter den Füßen zu haben glaubte. Dem Justizrat Scholten kam er nicht abhanden; doch wurde er auf ihm aufgehalten, und zwar durch ein schönes Weib und Bild, auf welches beides er stieß, als er wiederum aus dem Tannendickicht auf die Chaussee trat.

Eine Dame hielt allein in der Einsamkeit, auch auf einem Maulesel, seitab des Weges auf einem Felsenvorsprung, den Blick über das zu ihren und ihres Tieres Füßen schroff sich senkende Waldtal in die Weite gegen Nordosten gerichtet; – regungslos, die Zugel über den Bug des ruhigen Tieres gelegt, das Kinn mit der Hand stützend – eine stattliche Figur – Kraft und Schönheit – schwarze Haare und schwarze Augen und in den Augen jenes seltsame Suchen der im Gewühl Einsamen –

»Ichor!« murmelte der alte Jurist. »Das freut mich!« Ichor aber ist ein griechisches Wort, von den griechischen Menschen erfunden als Bezeichnung für das Blut, welches durch die Adern ihrer Götter rann als ein klarer Saft – »denn nicht kosten sie Brot, noch trinken sie funkelnden Weines«. Der Rufer im Streite Diomedes entlockte es durch einen Lanzenwurf der Hand Aphrodites, und die Göttin schrie laut auf und flüchtete weinend; aber Dione sänftigte ihr die Schmerzen, und es lächelte sanft

 

..... der Menschen und Ewigen Vater,

Rief und redete so zu der goldenen Aphrodite:

Nicht dir wurden verliehen, mein Töchterchen, Werke des Krieges.

Ordne du lieber hinfort anmutige Werke der Hochzeit.

Diese besorgt schon Ares, der Stürmende, und Athenäa.

 

Ichor entquoll auch dem schrecklichen Ares, und er schrie wie zehntausend der sterblichen Menschen; weshalb jedoch der Justizrat Scholten das Wort jetzt zu einem Ausruf verwendete, bleibt uns fürs erste dunkel, wir werden es aber erfahren, und zwar nach und nach.

Der letzte, nach der Straße hin vom Walde ausgestreckte Tannenzweig hob dem Alten die Mütze vom Kopfe.

»Gehorsamer Diener!« sagte er, nämlich der Justizrat; und auf dieses Wort wendete die schöne Dame das Gesicht von der schönen Aussicht ab und blickte auf die Störung, doch sie lächelte ebenfalls erfreut, als sie den Störenfried erkannte. Scholten grüßte, während sie ihr Reittier wendete, trat rasch auf den Grashang zwischen den Felsen und reichte ihr die Hand:

»Auf dem Kreuzwege am Blocksberge! Natürlich! Guten Tag, liebe Baronin! Guten Tag, Frau Salome!«

»Guten Tag, lieber Scholten«, sagte die Dame. »Im Grunde weiß ich freilich nicht, ob ich Sie so anreden darf – so mit einem ganz gewöhnlichen Familiennamen, dem Titel Justizrat und einem: Karl – Heinrich, August, Friedrich oder dergleichen dazu.