So ziemlich ist mir alles durch die Tatzen gegangen, vom Brotdieb aus Hunger, Elend und zu starker Familie bis zum Brandstifter und Mörder aus purem Vergnügen. Vom eintägigen Gefängnis wegen Feldarbeit am heiligen Sonntage bis zum Tod durchs Schwert oder Beil wegen sechsfachen Familienmordes weiß ich Bescheid in den Zuständen der Menschenwelt. Eine hebräische Millionärin und dazu hübsche und gesunde junge Witwe, und zwar aus Berlin, die ihre Villeggiatur hier in der Gegend in einer eigenen Villa hält, muß sich mir auf eine andere Weise zu den Akten geben, ehe ich ihr und ihrem sonor-melancholisch verschleierten Stimmorgan glaube, daß sie sich über ihr Dasein zu beklagen hat. Daß sie sich dann und wann über die krummnasige Verwandtschaft und über die liebe Bekanntschaft unter den christlich-germanisch aufgestülpten Arier-Riechern zu ärgern hat, will ich ihr wohl glauben. Zu weiteren Konzessionen lasse ich mich aber nicht herbei.«

»Sie sind doch ein furchtbarer Grobian, Scholten!« rief die schöne Frau.

»Unter Umständen – ja!« brummte der Alte und fügte unverständlich zwischen den Zähnen hinzu: »Immer aber da, wo ich nicht nur Menschenfleisch rieche, sondern auch Ichor wittere und man mir dann mit Flausen kommt.«

»Da ist die Sonne wieder«, rief die Frau Salome, »und jetzt, Scholten, bitte ich Sie freundlich, ein ander Gesicht zu ziehen. Im Grunde ist es doch nur eine komische Nachahmung und erreicht das Urbild lange nicht. Ich mache Sie da eben harmlos auf eine Felsenfratze zwischen den Tannen aufmerksam, und sofort fallen Sie ins Genre untergeordneter Talente und ziehen sie nach. Was sehe ich an Ihrem Gesicht, was mir – unter Umständen – mein Spiegel nicht grimmiger zeigt? Was murmelten Sie da von: Ichor?! Da kommt ein lustiger Strahl zwischen den alten Stämmen durch, und wenn Sie höflich Abbitte leisten wollen, ziehe ich den Handschuh ab und halte meine Hand in das Licht. Über die Hand hat man mir dann und wann Komplimente gesagt, aber noch nie über das Blut, das in ihr fließt. Sehen Sie das Götterfeuer? Da flammt es zwischen Aufgang und Niedergang und wird zwischen Okzident und Orient fluten, ob ich mich dann und wann langweile oder nicht. Was haben Sie noch zu sagen, bester Justizrat?«

»Daß Euer Gnaden eine Hand zum Küssen haben!«

»Flausen!« sagte die schöne Jüdin boshaft lächelnd, das Wort von vorhin wieder anwendend, und der Alte lachte und stieß mit seinem Stock auf den Boden und rief:

»Was für ein Ohr Eure Leute haben! Nun denn, bei den Göttern des Aufgangs und des Niedergangs, bei dem hohen Liede von der Attraktion im Weltall, bei den roten Kügelchen in den Adern von Mensch und Tier: wenn du vor mir stirbst, Menschenkind, will ich mich über deinem Hügel auf den Schild lehnen und sprechen: Das war mal ein braves, ordentliches Weib! Mit dem Worte ›außerordentlich‹ wird ein zu großer Mißbrauch getrieben, als daß ein Freund dem andern es in die Grube mitgeben könnte.«

»Da ist meine Hand, mein Freund; wenngleich nicht zum Küssen. Wie weit haben wir noch bis zu Ihrer Höhle?«

»Eine Pfeife Tabak, eine gute Harzstunde, zwei und einen halben Hundeblaff weit. ›Gehen Sie nur immer meinen Eierschalen nach, in einer Stunde sind Sie am Ort‹, sagte mir einmal ein kauender landeseingeborener geistlicher Herr, den ich nach dem Wege fragte, und seine Eierschalen brachten mich richtig nach einem Gewaltmarsch von ein und einer halben Stunde an Ort und Stelle.«

»Ein recht ordentlicher Appetit!«

»Nun, den können Sie dreist außerordentlich nennen, Baronin. Mir aber ist die gute Verdauung eines andern nie von solchem Nutzen gewesen als in jenem Falle. Aber beiläufig, zum Henker, was ist denn überhaupt unser Sein, Wesen und Treiben anders als ein Den-Eierschalen-anderer-Nachgehen?«

»Sagte das Merlin aus der Tiefe von Brozeliand oder Justizrat Scholten von der Höhe seines Bürostuhls aus?«

»Ichor!« murmelte Justizrat Scholten, und so zogen sie weiter, wirklich wohl noch eine gute Stunde, durch Licht und Schatten, auf gebahnten Wegen und auf ungebahnten, bis ein mit gelben Tannennadeln bedeckter Pfad, den nur hier und da die Wildschweine zerwühlt hatten, sie aus dem Hochwalde heraus und zu ihrem Ziel brachte. Vor ihnen, über eine Gebirgsebene weit ausgestreut, lag ein graues Dorf in der Spätnachmittagssonne, und trotz der Sonne traf die Wanderer ein kühler, ja kalter Luftstrom, vor welchem wie vor dem plötzlichen Blick in den gegen die westlichen Berge sinkenden Feuerball die Reiterin unwillkürlich die Zügel ihres Tieres anzog.

»Welch ein merkwürdiger Wechsel der Temperatur!« rief sie, und sie fand zu der meteorologischen Bemerkung ein Dichterzitat

 

Ein Windstoß fuhr aus dem betränten Grunde,

Und es erblitzte purpurrotes Licht,

 

murmelte sie, und der Justizrat, auf die schindelgedeckten Häuser und Hütten deutend, brachte die Terzine und den dritten Gesang der »Hölle« mit einem gewissen mürrischen Nachdruck zu Ende.

 

Hinsank ich ohne meines Daseins Kunde,

Wie unter eines schweren Schlafs Gewicht,

 

zitierte er und fügte seinerseits hinzu: »Es haben schon mehr Leute ausfindig gemacht, daß es hier gewöhnlich ziemlich kühl weht. Das ist nervenstärkend, Baronin; und was den Schlaf anbetrifft, so habe ich seinetwegen hier Quartier genommen. Er hat sich niemals im Leben zu schwer auf mich gelegt; – auf meines Daseins Kunde aber verzichte ich dann und wann mit dem größten Vergnügen.«

 

»Um so weniger finde ich es passend und berechtigt, daß Sie mich vorhin so grimmig anfuhren und von Ihrer Amtserfahrung und Kriminalgesetzbuchweisheit aus lächerlich machten.«

»Wenn wir demnächst einmal wieder eine Partie Billard zusammen spielen, wollen wir die Kontroverse fortsetzen, Frau Salome. Wenn wir uns jetzt nicht beeilen, wird wahrscheinlicherweise mein Besuch des Wartens überdrüssig werden und heimgehen, ohne eine Visitenkarte zurückzulassen.«

Er ergriff von neuem den Zügel des Maultiers und führte es von dem Waldpfade auf den steinigen Dorfweg und dem Dorfe zu.

Die schöne Frau lachte und sagte:

»So seid ihr!«

»Ja, so sind wir!« brummte Scholten. »Als ob noch jemand nötig hätte, mir das zu sagen?!«

 

Fünftes Kapitel

 

Wie unter eines schweren Schlafes Macht lag trotz der Tageshelle das Dorf da. Was die drei anging, so war der Esel der gleichmütigste unter ihnen; aber auch er hatte sich mit seinem Verdruß abzufinden. Es wuchsen ausgezeichnete Disteln farbenprächtig zwischen dem Gestein bis in den Weg; man wußte ihren Zuckergehalt wohl zu taxieren, aber der zweibeinige Narr mit dem dicken Prügel und dem ewigen widerlichen, unverständlichen Menschengeschnatter zog nicht am Zügel, sondern er riß an ihm, und die dumm-unverschämte Kreatur, die man den lieben langen Tag auf dem Rücken gehabt hatte, hätte einem freilich durch ihren Anblick den Genuß an der vollsten Krippe verleiden können.

»Was ist Talent für Lebensbehagen?« murmelte in dem Augenblick der Justizrat Scholten. »Nichts als die Gabe, aus dem Qualm etwas zu machen, der von dem Feuer der Leidenschaften in der Luft wirbelt!«

Die Frau Salome aber sah mit ihren orientalischen Augen auf das stumme Dorf.

Kein Kindergeschrei – kein Gänsegeschnatter – kein fröhliches Singen der Feldarbeiter! Viel Gebüsch doch wenige Obstbäume um die Schindelhäuser. Eine graue Steinkirche abseits auf einem Hügel zwischen den Gräbern des Dorfes; das hohe Gebirge seitwärts über den Wäldern, und nach der andern Richtung hin, über die Dächer, das Gebüsch und die mageren Felder hinaus, die ferne blaue Ebene!

»Es ist ein einsilbiges Volk, das hier haust«, sagte Scholten. »Zum größten Teil befindet es sich gegenwärtig sogar unter der Erde; drei Viertel der männlichen Bevölkerung treiben Bergbau, und das letzte Viertel mit den Weibern befindet sich im Walde oder auf den Äckern. Sie haben kurz anzubeißen, das sehen Sie schon den Kindergesichtern an. Manchmal passieren da Geschichten, die das Gepräge eines ganz andern Säkulums tragen. Sie stoßen auf Worte, Ausdrücke, Ansichten, die ganz sonderbar nach der Wüstenei des siebzehnten Jahrhunderts riechen, kurz, einen idyllischern Sommeraufenthalt für einen Juristen werden Sie sich schwerlich vorstellen können, liebe Baronin. Außerdem habe ich aber natürlich auch das Vergnügen, der einzige Gast der guten Leute zu sein – ein nicht zu unterschätzender Vorzug Sagten Sie etwas?«

»Nein. Aber es wäre mir lieb, wenn wir nun bald Palämons Hüttchen und Strohdach zu Gesicht bekämen.